Dienstag, 20. März 2012

Schritte durch zwei Diktaturen (3)



Sie legten mich im Krankenhaus auf eine fahrbare Liege mit angenehm kühler Unterlage und untersuchten mich augenblicklich. Drei Ärzte standen herum und steckten ratlos ihre Köpfe zusammen. Da kann man nichts machen, sagte der eine, der andere wunderte sich über die Ruhe, die ich zeigte und von der ich allein wusste, woher sie kam. Ich akzeptierte den Schlag als Strafe und eben das machte mich glücklich. Wenn ich mich aufgelehnt und empört hätte, dass ich so grob zusammengerüffelt worden war, oder wenn ich es anders gedeutet hätte, ganz normal eben, wäre ich, vermute ich, von einem Erregungszustand in den anderen gefallen. Und ob das gut gewesen wäre?


Drei Nächte schlief ich buchstäblich in Morpheus Armen, sanft und tief. Ab der vierten verweigerten sie mir die seligmachende Arznei. Mein Schädel wollte bersten. Wütende Hammerschläge hallten innen gegen eine riesige Glocke. Immer traf es mich an derselben Stelle. Mich machte der Stößel wahnsinnig. Ich wünschte und verlangte nur nach meiner Spritze. Der Schmerz nahm mir jegliche anderen Gedanken.


Da erschien gegen Mitternacht einer der Doktoren, der geschätzte Chirurg Klösel. Ich versuchte, mich zu beherrschen, bettelte nicht mehr. Er plauderte mit der Nachtschwester. Plötzlich konnte und musste ich zuhören, wie er mit seiner monotonen Stimme hinschnurrte, und sank in eine ungeheure Tiefe, aus der ich am anderen Morgen fast schmerzfrei erwachte. Erst am Abend jenes Tages fragte ich Erika danach wie ich aussehe. Sie war so freundlich abends jeweils eine Stunde bei mir zu sitzen. Mein Auge befinde sich nun fast wieder in seiner natürlichen Höhle. Selbst die alten Militärärzte hätten noch nie gesehen, wie ein Augapfel infolge massiver innerer Blutung sich auf das Doppelte seiner Größe auszudehnen vermag. Eigentlich sollte man annehmen, dass der rote Ball eher zerplatzt. Blutrot hatte mein Auge draußen gehangen, fast tomatengroß.


Da musste ich auflachen, denn ich sah ihn wieder vor mir, den alten Traktoristen im Dorf, wie er vor mir zusammenbrach und sich dann, nachdem er sich vom Boden erhoben hatte, schleunigst, wie vor einem Gespenst, aus dem Staube machte.


Ich erinnerte mich aber auch daran, wie ich Erika kennen gelernt hatte. 1948. Das war ein sonderbares Gefühl gewesen, am Schluss jener Tage des Kennenlernens. Wir feierten damals mit anderen gleichgesinnten Jugendlichen in der Gemeinde Neubrandenburg Silvester. Diese bescheidene Zusammenkunft war natürlich nicht zu vergleichen gewesen mit dem tollen Tanz- und Spielfest der großen kompletten Mormonengemeinde Cottbus, die ich aus gleichem Anlass 1946 in ihrer unglaublichen Vielfalt an Ideen und Charakteren als erste große und sehr harmonische Mitgliedergruppe überhaupt kennen lernte. Doch auch unser kleines Fest war schön gewesen. Am späten Nachmittag des Neuen Jahres begleiteten uns die Neubrandenburger Mädchen zum Zug, der uns heim nach Wolgast bringen sollte. (Den Weg hierher, fünfundsiebzig Kilometer weit, waren wir zu zweit gelaufen, Ulli Chust, mein Freund, und ich.) Erika trug damals einen braun-beige karierten Mantel und ich fühlte mich in ihrer Gegenwart sehr wohl. Damals benötigte man noch Bahnsteigkarten. Vor dem Zugang zu den Zügen gab es Holzboxen, in denen ein Schaffner mit einer silbern blitzenden Zange stand, um die Billets zu lochen. Ihrer Größe wegen gab ich ihr zwei.


So lachten wir einander zum Abschied in die Augen und wussten wortlos, dass wir uns mehr bedeuteten, als wir jemals aussprechen würden.


Nun saß diese Erika neben meinem Bett im Krankenzimmer. Ich schaute sie verstohlen an, denn ich musste auch wieder an die andere denken.


Wenn Erika geahnt hätte was vor erst wenigen Tagen meine Absicht gewesen war, hätte sie sich nicht so unbekümmert verhalten.


Aber so war ich eben.


Ich hatte eine Ehe und Familie vorsätzlich zerbrechen wollen. Und, -nicht weniger schlimm-, ich hatte gegenüber dem für mich real existierenden Gott mein ursprüngliches Versprechen brechen wollen, mich nie und nimmer in dieser Weise zu vergehen.


Andererseits wusste ich, dass ich Erika immer geliebt hatte. Nur weil sie soviel größer war als ich, hatte ich nie ernsthaft daran gedacht, ihr das zu sagen. Ihr langes schmales Gesicht war mir wegen des besonderen Ausdrucks immer noch sehr angenehm, ihre Ausstrahlung empfand ich als völlig rein. Eben deshalb war es mir unmöglich, sie zu begehren. Ich bewunderte sie und schwieg. Dabei hatte es eine Zeit gegeben in der ich mir gut vorstellen konnte, dass wir zusammen Kinder hätten. Sonderbarerweise konnte ich in den zurückliegenden Jahren, wenn ich mir diese Frage stellte, keine andere Mutter für meine künftigen Kinder denken. Ich konnte manchmal deutlich sehen, dass wir, trotz des erheblichen Größenunterschiedes, miteinander glücklich sein würden. Manchmal hatte ich sogar gefunden, dass wir uns seit Ewigkeiten kannten. Immer wenn ich, in den auf jene Silvesterfeier folgenden Jahren, an sie dachte kam es wieder, dieses intuitive Wissen: wir kennen uns schon lange.


So zog es mich immer wieder sehr zu ihr hin.





Ich lag vier volle Wochen in ihrem Krankenhaus und war voller negativer Gedanken, was meine Vergangenheit und meine Zukunft betraf. Vielleicht ahnte Erika etwas von der Intensität meiner Qual. Denn die Frau, die in dem kleinen Dorf wohnte, gab es ja noch. Sie lebte in mir weiter. Es gab ihre Zuneigung und Liebe und ihren Kummer um mich, den sie nicht beherrschte, wie ich meine eigenen Gefühle noch längst nicht steuern konnte.


Man kann einen Menschen nicht aus seinem Herzen stoßen wie man Ballast abwirft oder wie man dem Boden Erz entreißt und es in einem gewaltsamen Prozess zu Stahl und Schlacke werden lässt.


Seltsam ineinander verschlungen sind solche Beziehungen, auch wenn keine Worte fallen.


Erika und ich wagten mit keiner Silbe die Situation anzurühren, in der ich mich befand und aus der ich nicht wie aus einem nur verlangsamt fahrenden Zug aussteigen konnte.


Es gab trotz alledem zwischen ihr und mir das tiefere Einverständnis und eine stumme Übereinkunft, einander beizustehen. Ich wusste in jener letzten Woche meines Krankenhausaufenthaltes mit vorübergehender Klarheit, was ich mehr und mehr wünschte und wollte, nämlich sie.


Es hielt aber nicht an.


Denn zwischen Wollen und Können klaffen Lücken. Manchmal in diesen Nächten, da ich mich von dem Schlag erholte, lag ich mit wachen Augen grübelnd auf dem Bett und verlangte von mir vergeblich, Herr meiner mehr denn je verworrenen Gefühlswelt zu werden.


Bloß das Eine war und blieb vom Kopf her klar. Ich wollte und musste neu anfangen.


Ich sah, dass ich eine sehr wichtige Lektion hinzugelernt hatte.


Niemals würde ich mir noch einmal erlauben, gewisse Grenzen zu überschreiten.


Ich wünschte den Ratschlag, den David O. Mc Kay mir ins Herz gesenkt hatte, von nun an nicht mehr nur formal, sondern von meinem Innern her unbeirrbar zu befolgen


Vier Monate später schrieb ich an Erika, ob sie einen Mann heiraten würde, der kleiner ist als sie.


Sie schrieb sehr schön zurück. Alles noch streng per “Sie”, wie das damals üblich war, unter uns nicht selten stocksteifen Deutschen.


Nachdem Erika und ich bekannt gaben, dass wir heiraten werden, erhielt sie aus verschiedenen Ecken Warnungen, die auch bis zu mir drangen: “Heirate bloß nicht diesen Windhund! Der ist doch unberechenbar. Du würdest Dein blaues Wunder mit ihm erleben. Der kann Dich nur unglücklich machen. Du kennst ja seine Vergangenheit.”


Sonderbarerweise wissen die Leute wenig von sich, aber die Vergangenheit anderer ist ihnen bestens bekannt.
Im Sommer 1953, am Tage unserer Hochzeit, unmittelbar nach dem Arbeiteraufstand in der DDR, bezogen wir in Neubrandenburg zwei kleine ehemalige Dienstmädchen-zimmerchen. Erika und ich waren glücklich, dass wir überhaupt zusammen wohnen durften. Denn es gab sehr viele Wohnungssuchende in der weithin zerstörten Stadt. Wäre Erika als Krankenschwester nicht so bekannt und beliebt gewesen, dann hätten wir keinen Fürsprecher beim Wohnungsamt gefunden. Die meisten Jungvermählten konnten erst nach Monaten zusammenziehen. Sie mussten sich jahrelang gedulden.


Es gab keine Planung für den Neubau von Eigenheimen und außerdem hätte so gut wie niemand die zur Bauausführung erforderlichen Mittel aufbringen können. Die Kommunisten dachten grundsätzlich daran riesige Wohngebäude zu errichten, um dort die Menschen besser unter ihre Kontrolle zu bringen. Ganz anders als gemäß dem Evangeliumsplan ging es ihnen nie um das Lebensglück des Einzelnen, sondern die Menschenmassen, die Kollektive, die sie dirigieren konnten waren für sie aus ihren machtpolitischen Gründen wichtig.





Noch im Juli 1953, etwa zehn Tage nachdem wir geheiratet hatten, vier Wochen nach der gewaltsamen Niederschlagung des Aufstandes der Berliner Bauarbeiter und ihrer Sympathisanten in einigen ostdeutschen Großstädten, wurde ich von dem Vorsitzenden der Hausgemeinschaft zu einer Versammlung eingeladen, die mich schon wieder in neue Schwierigkeiten stürzen sollte.


Wo immer es möglich erschien, wurde von Parteifunktionären der Arbeiteraufstand vom 17. Juni als der den westlichen Kriegstreibern missratene Tag “X” besprochen. Das Ereignis lag den Parteigenossen schwer im Magen. Sie hofften, das Doppelproblem einfach zerreden zu können, zu lösen war es auf ihre Weise nicht.


Der Vorsitzende des Rates des Kreises Neubrandenburg, der Bezirksvorsitzende der NDPD, Herr Wolf und andere führende Funktionäre wie der Kreissekretär der SED Herr Guter, und ich selbst waren im Schulungsraum des Gebäudes der Kreisverwaltung anwesend, als die heikle Problematik besprochen wurde.


Während der ganzen Vortragsstunde taten die Redner und Diskussionsteilnehmer voreinander und vor mir so, als sei die DDR des Jahres 1953 das Beste, was Staatsbürger sich wünschen konnten, außer jenen Fehlern und Mängeln natürlich, die der Westen durch seine Hetzkampagnen und sein Teilembargo verursacht hatte. Weshalb im Osten noch nicht alles so perfekt sei, wie es dem Plan nach hätte sein können.


Aber die Teilnehmer jener Runde wussten mehrheitlich ebenso gut wie ich, warum dieser Staat den meisten Menschen sehr missfiel. Alle, mit denen ich darüber gesprochen hatte, klagten über die Härte und Kälte, mit der die Partei sich allerseits durchsetzte. Dass sich die Machthaber in den Zeitungen immer selbst lobten und sich gegenseitig mit Orden und Auszeichnungen behängten, dass in der Presse ausnahmslos die Menschen zu Wort kamen, die sich “staatsbewusst” äußerten, ärgerte viele. Dass jede sachliche Kritik sogleich als konterrevolutionäre Meinungsmache verstanden wurde, dass die Agitatoren, wenn sie in der Argumentation nicht weiter wussten, mit dem mehr oder weniger zutreffenden Hinweis auf die “Machtverhältnisse” reagierten, hatte jeder erfahren.


Mich ärgerte, dass sie in keiner Weise selbstkritisch eingestellt waren, im Gegensatz zu jenen, die ich in den ersten FDJ-Versammlungen kennen gelernt hatte. Sie rafften sich nicht auf, offen zu legen, warum Arbeiter sich gegen die Arbeiterregierung erhoben hatten. Ihr zaghafter Versuch einer Erklärung blieb im Ansatz stecken. Noch während der Exoberst Herr Wolf sprach, kamen mir immer neue Gedanken, die alle anwesenden Genossen und Staatsnahen, im Innersten sicherlich nicht viel anders als mich beschäftigten.


Schon bevor die DDR offiziell ausgerufen wurde, legten ihre Gründer, nach den Eindrücken die ich gewann, größten Wert auf die Militarisierung ihres Einflussbereiches SBZ (Sowjetische Besatzungszone). Sie steckten fast jeden freien Pfennig lieber in die Staatssicherheit statt in die Entwicklung der Wirtschaft. Das erste bedeutende Gebäude, das sie in Neubrandenburg errichten ließen, war das der Polizei gewesen. Es schien so, als liefe jeder zweite Mann, zwischen zwanzig und dreißig, in Polizeiuniform herum. Überall waren sie gegenwärtig.


Kein Wort verloren die Teilnehmer der Schulungsrunde darüber, was die Menschen am Sozialismus störte. Kein Mucks über die inneren Ursachen der Misere. Niemand bekannte seinen persönlichen Schuldanteil. Keiner in dieser Runde sagte reuig: Ich habe das falsch eingeschätzt. Die Menschen wollen nicht bevormundet werden. Sie sagten nicht: auch ich habe geschwiegen, als sie entmündigt wurden. Statt zu bekennen, wir haben ihnen nicht zugetraut, sich bei einer Wahl richtig entscheiden zu können, versuchten sie sich selbst zu rechtfertigen.


Lediglich die (Wahl-)Zettel haben sie uns falten lassen und uns so jegliche Chance genommen mitzureden. Die überzeugten Genossen hätten sich reuig an die Brust schlagen müssen. Denn sie hatten den Millionen mit den Medien, in den Schulen, in den Betrieben, auf den Plakaten, in den “Zeitungsschauen” und auf den Wandbrettern, morgens, mittags und abends den nicht gerade sehr appetitlichen grauroten Einheitsbrei vorgesetzt. Im Gegenteil, ich fürchtete, als ich sie so reden hörte, dass sie weiterhin, nun erst recht, so unklug fortfahren und wie bisher mitmachen würden. Denn im Hinterkopf steckte bei ihnen das Wissen um die Existenz der Roten Armee.


Die Russen werden nichts zulassen was ihrem Lieblingskind schadet.


Dabei hatte die Idee des Sozialismus durchaus mehr zu bieten, als das was seine unflexiblen Spitzenverwalter praktizierten.


Damals fühlte ich meine Unterlegenheit, gegenüber diesem sonderbaren Geist den die Partei verbreitete sehr intensiv. Es verbot sich von selbst, frei zu reden. Das Gefühl ein Staubkorn zu sein war das vorherrschende.


Die rings um mich dasitzenden Staatsfunktionäre bekannten die Sünde der Lüge nicht. Kurz, es war ärgerlich anzuhören, wie sie sich für rein erklärten und glaubten, ihr Rechtfertigungspaket müsste jeder andere mittragen. Schließlich meldete ich mich gegen mein warnendes Gefühl zu Wort und behauptete: “Die hier Anwesenden würden anders reden, wenn sie ihre Privilegien eingebüssten. Hätte man sie, wie die Arbeiter, finanziell heruntergestuft, dann würden sie verstehen warum die Arbeiter sich gegen den Staat erhoben haben.”


Das zu sagen, war in der gegebenen Situation schon gewagt gewesen. Aber mich ritt der Teufel. Nachdem ich soweit gegangen war, nahm ich mir noch heraus, wörtlich zu formulieren: “Mit einer einzigen Ausnahme halte ich Sie alle für Karrieristen.”


Das anklagende Wort stand. Im Klartext hieß das: neun der zehn anwesenden Staatsfunktionäre seien unehrlich. Das war nun doch entschieden zuviel gesagt. Ich war zu weit gegangen. Das war eine Frechheit.


Alle, - und das waren, die Ehefrauen eingerechnet, ungefähr zwanzig Leute, - schauten mich scharf missbilligend an. Ich selbst war entsetzt. Es war mir herausgeplatzt. “Konjunkturritter, Karrieristen” Unmöglich schien mir aber auch, das unbedachte Wort zurückzunehmen.


Sie schwiegen zunächst. Wagten sie es nicht, so wenige Tage nach dem möglicherweise wiederholbaren Ereignis, die grundsätzliche Berechtigung meines Vorwurfes in Frage zu stellen? Jeder in diesem Kreis wusste in seinem tiefsten Innern, dass die DDR wegen des hausgemachten Karrieredenkens nicht hoch kam.


Jeder in unserer Schulungsrunde wusste aus eigener Erfahrung, wie er in den ersten Nachkriegsjahren sich Tag um Tag selbst fragen musste, ob er sich mit diesem System, das sich so lieblos und unglaubwürdig eingeführt hatte, überhaupt einlassen darf. Herr Wolf, der Bezirksvorsitzende der NDPD, ehemals Oberst im Generalstab des Generalfeldmarschalls von Paulus vor Stalingrad, rettete die Situation und mich und sich, indem er feststellte, ich sei noch sehr jung.


Er ermutigte mich damit, nun den andern halben Schritt zu setzen.


Das sah ich ein. So unbewiesen konnte ich meine harte Aussage nicht lange im Raum stehen lassen. Ich überlegte krampfhaft, was ich zur Entschärfung sagen könnte. Andererseits war meine Behauptung wahr.


Erika hätte die Hände über den Kopf zusammen geschlagen, wenn sie mich gehört und gesehen hätte: “Rede nicht so viel!” Das gab sie mir jeden Tag mit auf den Weg.


Die Stimmungslage die ich geschaffen hatte wirkte peinlich, und diese Peinlichkeit wuchs. Andererseits blieb mir nur wenig Spielraum, wenn ich mich nicht selbst verraten und verachten wollte, und ich sagte schließlich: “Bei denen, auf die es nicht zutrifft, entschuldige ich mich.”


Sie waren vernünftig genug, mich nicht in die Enge zu treiben und ließen es dabei stehen. Sie sahen ebenfalls ein, dass ich nicht weiter zurückgehen konnte. Sie nahmen den knappen Satz als Entschuldigung an.


Jedem in diesem Kreis war natürlich klar, weshalb sie nicht wagten einen freien Austausch ihrer eigenen (geheimen, ehrlichen) Analyse der vergangenen Ereignisse vorzunehmen. Solches Recht gestand ihnen ihre Partei nicht zu.


Dass ich mich nach der Schulungsrunde dazu überreden ließ, mich als Listengänger an einer Geldsammlung für die “Nationale Front” zu beteiligen, will ich nicht unterschlagen, auch nicht, dass sie mich verhafteten, weil ein Offizier der Bahnhofspolizei misstrauisch wurde. Ich will auch nicht verschweigen, dass mich die Ehefrau des späteren Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, Frau Guter, da herausholte und dass ich ihr daraufhin sagte: “So! Das war unwiderruflich meine letzte politische Aktion”. (Was ich dann auch konsequent bis zur Wende 1989 einhielt.)





Erika erfuhr nur allmählich und in Bruchstücken, was sich zugetragen hatte. Sie ängstigte sich zu Recht. Sie tadelte mich liebevoll: “Es sind Leute eingesperrt worden, die viel weniger als Du gesagt haben.” Ich musste ihr versprechen, mich vorsichtiger zu verhalten.


Nach einigen Wochen hatte sie schon wieder Ursache mich zu bitten nicht so leichtsinnig zu sein.


Sie nahm meine Hände und schaute mich durchdringend an. Immerhin sei sie schwanger. Ich erschrak. Die Anstrengung einer Geburt würde sie nicht überleben, dafür war ihr Herz nach der letzten schweren Erkrankung zu schwach. Ihre Ärzte hatten sie gewarnt. Wenn sie je schwanger würde, müsste sofort ein Abbruch erfolgen. Deshalb hatte sie zwei Monate vor der geplanten Hochzeit die Verlobung gelöst. Aber auf meinen naiven Widerspruch hin heirateten wir dennoch. Und nun das. Ich sagte nur: “Dann müssen wir den Ärzten gehorchen!”


Sie schüttelte ihren Kopf ganz entschieden und ruhig setzte sie hinzu “Ich werde mein Kind bekommen!”


Im Frühling war es so weit. Stunde um Stunde kämpften dieselben Ärzte, die sie vor einer Heirat und diesen Folgen gewarnt hatten, um ihr Leben. Unser Sohn Hartmut war bereits da und schrie sich schon die Luft aus den Lungen, da stürzte sie noch tiefer, immer tiefer. Minütlich erwarteten die Ärzte den Herzstillstand. Ich saß vor ihrem Zimmer, im Flur des Krankenhauses und verstand nicht viel, außer, dass sie in höchster Lebensgefahr schwebte.


Aber sie hatte doch einen Priestertumssegen bekommen!


Wie benommen nahm ich die Menschen um mich herum wahr. Erst gegen Mitternacht kam der Chefarzt, Dr. Prokop heraus und beruhigte mich, schickte mich heim. Sie habe es geschafft. Sie war stark genug gewesen über den schwindelnden Abgrund auf der schmalen Brücke entlang zu balancieren. Hin zum Leben und zu mehr Freude.


Später sagte sie, in Gedanken hätte sie sich nur noch an meinen Händen festgehalten. Ich hätte ihr mit Liebe geholfen, über den tiefen Abgrund zu gehen.


Wie dankbar waren wir unserem Gott!


Weil alles gut ausgegangen und überstanden war, reizte es mich allmählich wieder, in hundert neuen Gesprächen mit fremden Leuten abzutasten, wo meine Grenze lag. Mich interessierte viel zu sehr, was die einen und die anderen über das Wie und Warum der politischen Entwicklung in der DDR dachten. (Weniger als fünf Menschen habe ich im Verlaufe der Jahrzehnte gefunden, die klug genug waren und trotzdem ganz und gar hinter der Linie der Partei standen.)


Drei Jahre lang arbeitete ich, bis Juni 1956, im ungeliebten Gärtnerberuf in der Obstplantage Tollenseheim. Dort lernte ich H. Maque kennen, den ehemaligen SED Kreissekretär von Neustrelitz. Er leitete die bereits vor ihm ins Leben gerufene kleine Schule für LPG-Kader. Er gehörte zu den fünf bedingungslos Überzeugten, die ich je gefunden hatte. Aber er war ohnehin ein Sonderling.


Er wünschte sich eine Riesenschule und er fand Gehör, denn er war ein Macher. Sein derb geschnittenes Gesicht gefiel nicht nur den Frauen. Wer ihn sah, respektierte ihn unwillkürlich als Persönlichkeit. Ihm wurden erhebliche Geldsummen zweckgebunden für die Planungsphase des Bauvorhabens zur Verfügung gestellt. Er konnte die Mittel gegen Ende 1954 aber nicht mehr in vollem Umfang einsetzen. So kaufte er statt dessen “Sportgeräte” ein. Darunter war ein Wellenbinder, ein von einem Wartburgmotor angetriebenes, schnell fahrendes Vorderkajütboot, die Verwirklichung des Traumes jeden sportlichen Mannes. Es sollte fortan ausschließlich ihm zur Verfügung stehen. Als die Revisionsfachleute später den Tatbestand dieser Fehlleitung staatlicher Mittel aufspürten, drohten sie ihm. Aber weil er ein mächtiger Mann war, wackelten sie bloß mit dem spitzen Zeigefinger: “Genosse Maque! Genosse Maque!”


Das war der ganze Preis, den der Mann der Tat für das zauberhafte Kajütboot zahlte. Der Schulleiter Maque kümmerte sich nach Anlieferung “seiner” Sportgeräte im Dezember vorrangig um seinen Flitzer. Der Rest, die Paddelboote und ein Ruderrennboot, blieben auf dem Vorgelände, unter einem mächtigen Apfelbaum, einige Zeit lang ungeschützt liegen.


Zufälligerweise hatten die Bauingenieure die zum Zweck der Geländevermessung benötigten weißroten Messstäbe in der nahe liegenden Garage stehen gelassen. Ich nahm damals einen dieser mit einer Eisenspitze versehenen Stäbe in die Hand, wog ihn und warf ihn weit über den Baum unter dem die Vierergig lag. Hausmeister Paul, ein Mann mit Gardemaß, wollte es mir nachmachen. Ungeübt im Speerwurf, wog er die kiloschwere Stange und schleuderte sie ungeschickt von sich. Sie krachte mitten hinein in den nur zigarrenkästchendünnen Rumpf der Gig. Sie zersplitterte. Der stark vibrierende Stab machte das sehr teure Boot zu einem unreparierbaren Wrack.


Was solange nicht möglich zu sein schien, veranlasste Hausmeister Paul sofort. Sämtliche “Sportgeräte” wurden von ihm selber wintersicher untergebracht. Das sollte für mich noch Konsequenzen haben. Zuerst bugsierte er die Vierergig in die leerstehende Baracke hinein. Alle anderen Boote baute er davor als Sichtschutz auf.


Für seine “Umsicht” wurde er auch noch belobigt, ich dagegen getadelt…


Herr Maque hielt mich ohnehin für einen leibhaftigen Teufel, auch weil er sich meine Verhaltensweise nicht erklären konnte. Alles Religiöse erschien ihm und seiner Wirtschaftsleiterin, die ihm nie erlaubte abends heim zu seiner Frau zu fahren, suspekt.


Wir haben nur selten miteinander gesprochen. Er mochte mich nicht, weil ein richtiger Mann, seiner Meinung nach, seine Standfestigkeit erst nach dem zehnten Glas Kognak zu beweisen imstande war. Und überhaupt in diesen modernen Tagen Mormone zu sein hielt er für eine Unmöglichkeit.


Eine junge Dame, die nach T. gekommen war, um Philosophievorlesungen zu halten und die diese Differenz zwischen ihm und mir bemerkte, sprach mich eines Tages unvermittelt an. Sie hätte gehört, dass ich jeden Sonntag zur Kirche ginge. Vielleicht war sie neugierig auf meine Ansichten, vielleicht wollte sie mich “hoffähig” machen. Sie fing an, mit mir über das Thema Glauben zu reden. Sie gab vor, die Paulusbriefe zu kennen. Das war aber nicht der Fall. Sie mochte das eine und das andere Kapitel gelesen haben, mehr nicht.. “Erzähle mir von Deiner Theologie”, sagte sie eines Tages seelenruhig und schaute mir sekundenlang in die Augen. Ihre dunkle Stimme vibrierte. Sie wollte, dass ich ihr auf ihre Stube folgte: “Oder hast du Angst?”


Da sie mein Zögern bemerkte, stellte sie mir eine interessante Frage. Sie wartete aber nicht ab, ob und wie ich antworten würde, sondern beklagte ihr Schicksal an der Seite ihres Mannes, der sie nie verstanden hatte. Er hätte sie schließlich wegen einer anderen verlassen und ihr Misstrauen gegen die Männer überhaupt sei unüberwindlich. Während sie redete, verstärkte sich mein Eindruck, dass sie keineswegs die Männerwelt hasste, nicht einmal einen Bruchteil davon, geschweige denn die ganze. Ihre Blicke ruhten wohlwollend auf mir. Sie schaute auf die Uhr und fragte: “Soll ich uns einen Kaffee machen?” Das war die magische Formel, deren expliziten Sinn jeder kennt. “Bitte keinen Kaffee!” erwiderte ich, entschlossen mich korrekt zu verhalten.


Dabei blieb es. Dann schwärmte ich ihr hinreichend von meiner Frau vor.


Einige Tage danach überraschte sie mich im kleinen Essensaal bei einem Gespräch mit einem Mann, der sich gerade über sie lustig gemacht hatte. Sein polterndes Lachen hatte sich unverhohlen beleidigend gegen sie gerichtet. Aber nicht ihn, mich schaute sie an, mit jenem Ausdruck, der eine ewige Feindschaft beschwor.


Wenig später, ich dachte kaum noch daran, sagte mir jemand mein Gesprächspartner sei verhaftet worden. Unmittelbar darauf begegnete ich ihr im Waschraum. Während wir aneinander vorbei gingen, fauchte sie mich an, unmotiviert, wie ich im ersten Augenblick glaubte. “So nicht!”


Kaum hatte ich ihr den Rücken zugekehrt, lief es mir siedendheiß über den Rücken. Mensch, Gerd Skibbe, sie haben euch abgehört!


Wie konnte ich so naiv sein, so dumm? Ich hatte doch gewusst, dass Herr Maque eine teure Gegensprechanlage in seinem Büro installieren ließ. Wie konnte ich vergessen, dass diese Technik ihm und anderen Mitgliedern der Hausleitung ermöglichte, nicht nur jederzeit in den Unterrichtssaal hineinlauschen zu können. Direkt neben diesem Raum lag der Speisesaal.


Sie haben jedes Wort mitgehört.


Sofort war mir alles gegenwärtig. Wie wir dagesessen und auf Ulbricht und die DDR geschimpft hatten, auf das ganze verdammte System der Seelenknechtung überhaupt. Mir fielen nach und nach sämtliche Details des Gespräches ein. Die Angst stachelte es aus mir heraus. Respektlos hatten wir auch die Philosophielektorin verhöhnt. Bis wir auf Lenin zu sprechen kamen. Was der sich gegen seine Kronstädter Matrosen herausgenommen, sei ein Skandal gewesen. Die wunderbaren Jungs hatten den Mut gehabt, sich dreieinhalb Jahre nach der Oktoberrevolution gegen die Unmenschlichkeit des System zu erheben. Von ihren Schlachtschiffen “Sewastopol” und “Petropawlowsk” aus haben sie laut protestiert, dass die Arbeiter in den Kronstädter Staatsunternehmen “wie die Zuchthäusler zur Zarenzeit” behandelt wurden. Trotzki habe sie deshalb, auf Lenins Befehl, zusammenschießen lassen. Dafür allein hätte man ihn in Ketten legen sollen. Recht plastisch hatte mir mein Gesprächspartner die Szene gemalt, wie die Truppenteile der Roten Armee über das Eis des finnischen Meerbusens vorrückten und dass sich die Artilleristen der eingefrorenen Schlachtschiffe vergeblich gegen den Sturmlauf der in Weiß gekleideten Angreifer verteidigten.


Nachdem die Dame mich wie eine Giftschlange angezischt hatte, betrat ich den Speiseraum mit einer einzigen großen Frage, schaute mich um, sah den Lautsprecher gerade über meinem Stammplatz und wusste endgültig Bescheid. In diesem Gerät befand sich, wie in den anderen auch, ein Mikrofon.


Da half alles Leugnen nichts. Ich hatte an jenem Tag noch eins drauf gegeben. Man hätte Lenin nicht bloß in Ketten schlagen, sondern auspeitschen sollen. Er habe nur schöngeredet und formuliert, Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung, aber die böse Realität des Sowjetstaates zeigte uns, dass Kommunismus nichts anderes war als die absolute Herrschaft des bolschewistischen Kommissars plus Hinrichtungen Unschuldiger.


Kaum hatte ich diese Erinnerung Wort für Wort heraufbeschworen, erschien Herr B.B. im Speiseraum. Er war einer der erst kürzlich eingestellten Lehrer. Flegelhaft legte er seinen Arm auf die Schulter der Philosophiedozentin und griente mich an, heimtückisch, wie mir schien. Das Mittagessen schmeckte mir nicht.


Draußen sah ich Herrn Maque auf mich zukommen. Ich bemühte mich, ihn nicht merken zu lassen, wie aufgeregt ich war. Er kam mit zusammengekniffenen Mundwinkeln auf mich zu, schwieg aber. So kam und ging er immer. Nur diesmal deutete ich das für mich Schlimmste hinein. Mir war zumute, als ballte er die Faust gegen mich. Was sollte ich tun? Wenn die drei wirklich wussten, was der Mann G. und ich geredet hatten, und wenn das stimmte dass sie G. deshalb schon zum Zweck der Bestrafung verhaftet hatten, dann stand mir nichts Gutes bevor.


Kurz vor Feierabend trat Herr B.B. an mich heran. Ich war gerade im Begriff, mein Fahrrad aus dem Keller zu holen. Er stellte sich breitbeinig vor mich hin, verschränkte die Arme und sagte: “Was subversive Tätigkeit ist, weißt Du.” Er verdrehte die Augen und fuhr fort: “Wir werden Dich hopp nehmen lassen!” Sein langes schmales Gesicht war blass. Statt ihn beherrscht zu fragen, weshalb konkret er mir drohte, fiel ich in Panik. Er sagte nichts weiter, sondern schaute mich nur an.


Herr B.B. ging.


Ich warf mir vor, so unklug gewesen zu sein, Lenin zu beschimpfen, dazu in einer öffentlichen Einrichtung. Das war eine unverzeihliche Sünde! Dafür wirst du bezahlen. Lenin darf alles. Im Namen der Revolution darf er was er will und wenn sie daran alle verreckten. Diese Ikone besudelte niemand ungestraft. Geschieht dir recht, dass sie dich hoppnehmen. Ist es dir als Mormonen nicht ohnehin untersagt, andere Menschen zu verurteilen? Hat Jesus nicht gelehrt “Richtet nicht?” Gott und die Geschichte werden ihr Urteil sprechen, nicht du. Was hast du dir da erlaubt?


Eiligst fuhr ich heim. Panik hetzte mich vorwärts. Ich beichtete Erika alles und sagte: “Packen wir unsere Sachen. Ich habe einen Fehler gemacht. Gehen wir in den Westen! Stelle Dir vor, sie klopfen heute Abend an unsere Tür.” Erika schaute mich ängstlich an. Meine Hände zitterten. Es war genau das eingetreten, was sie so lange schon befürchtete. Immer wieder hatte sie mir ans Herz gelegt, wenn schon nicht an sie und mich selbst, wenigstens an Hartmut meinen kleinen Sohn zu denken. Häufig genug waren Leute vom Arbeitsplatz weg verhaftet worden. Manchmal nur wegen einer kleinen Denunziation.


Auf der Stelle fuhr ich zu Otto Krakow, meinem Gemeindepräsidenten, um ihn zu informieren, dass wir für immer weg in den Westen gehen müssen.


Gerd, ich kann auf Dich nicht verzichten. Bleibe hier! Dir wird kein Haar gekrümmt werden. Du hast nichts verbrochen. Du hast Deine Berufungen als Lehrer. Subversiv, was heißt das? Hast Du was verbrochen? Tollenseheim steht doch noch. Fürchte Dich nicht."


Ja, aber man muss bei den Kommunisten nichts verbrochen haben und wird trotzdem eingesperrt.”


Das weiß ich!” erwiderte mein väterlicher Freund, der 1946 wider Willen von der SPD in die SED übernommen worden war und wegen seiner Treue gegenüber der Kirche gerade seinen Austritt aus der Partei erklärt hatte. “Ich habe das sichere Gefühl, dass Dir nichts geschieht!”


Soll ich mich auf Dein oder auf mein Gefühl verlassen?”


Wie in so vielen anderen Fällen, verlasse Dich auf Gott.”


Ich dachte: Du hast gut reden. Was ich selbst tun kann und muss, wird kein allmächtiger Gott für mich erledigen. Seine allerhöchste Majestät im Weltall hat mehr zu tun…


Sonderbarerweise wurde ich während der nächsten Minuten innerlich ruhig. Ich konnte alles noch einmal in Gedanken durchspielen. Mit nicht wenigen Lehrgangsteilnehmern hatte ich geredet. Einige waren kritischer als ich gewesen. Es war nicht erwiesen, dass mein Gesprächspartner G. eingelocht worden war. Er konnte in den Westen geflohen sein. Tag um Tag liefen den SED Machthabern so viele Menschen sang- und klanglos davon. Sie fuhren nach Westberlin und kehrten nie wieder zurück.


Ein Gedanke war es der mich schließlich umstimmte: wenn sie ihn verhaftet hätten, wären sie längst auch bei mir gewesen.


Dennoch war denkbar, dass sie G. zur selber Zeit in einem geheimen Zimmer verhörten. Alles war in diesem Staat möglich.


Aber wenn es nicht meine Äußerungen über Lenin waren, was war es dann? Nur aus seiner Laune heraus hatte B.B. mir gewiss nicht gedroht. Da dachte ich plötzlich an die angekohlten und versengten Omorikafichten und an den davor stehenden Holzschuppen. Mir fielen sämtliche Sünden ein. Sie haben die zerstörte Vierergig entdeckt. Die werden sie mir am Montag präsentieren. Ich sah mich schon im Geist in Tollenseheim ankommen und B.B. dastehen, wie der mich mit seinem höhnischen Grinsen heranwinkt. Das war es. Immer noch schlimm genug.


Ich hatte vor wenigen Tagen an einem trockenen Märztag die Wiese abgebrannt und verlor dabei die Kontrolle über die Laufrichtung des Feuers Lediglich unter Aufwendung meiner letzten Kraft konnte ich verhüten, dass die Baracke in Brand geriet. Ich wusste, dass ich dabei beobachtet wurde. Immer wieder hatte ich mich in die Flammen geworfen und Brandstrecken gelöscht. Die lodernden, trockenen Ranken der wilden Clematis am Fuß der Omorikafichten hätten allerdings um Haaresbreite noch alles zunichte gemacht. Denn die Bäume befanden sich in unmittelbarer Nähe des Holzschuppens, der dann natürlich nicht zu retten gewesen wäre. Ich sehe heute noch die zerfetzte Vierergig vor mir, aufgestapelt hinter den anderen Sportbooten in diesem Holzhaus.


Dachten Herr Maque und B.B. nun, dass ich das Feuer in der Absicht gelegt hätte, diesen Schuppen “zufällig” abbrennen zu lassen?


Dann hätte ich doch nicht wie ein Berserker gekämpft, um genau das abzuwenden.


Die Frage der Schulleitung könnte folgendermaßen lauten: Wer hat die extrem teure Vierergig zerstört? Und in welchem Zusammenhang damit stand das leichtsinnige und im Grunde überflüssige Abbrennen der großen Liegewiese?


Wenn sie sich das so fragen sollten, dann sah es für mich immer noch trübe aus. Ihr Schluss könnte sein: der ideologische Wirrkopf Skibbe richtet Schaden an, wo er kann. Ideell und materiell. Seine Tätigkeit ist generell subversiver Art.


Wie sollte ich je klar machen, dass ich an der Zertrümmerung der Gig zwar direkt beteiligt, aber unschuldig war?


Niemand hätte von dieser Bootszerstörung erfahren, wenn das Holzhaus abgebrannt wäre. Die Schulleitung könnte nun annehmen, ich hätte die Baracke auf dem Gewissen um die Spuren meines Verbrechens zu verwischen, und zwar noch vor der Entdeckung des Schadens bei einer zu erwartenden ersten Benutzung des Bootes. Dass sie sich das so zusammenreimen könnten beschäftige mich enorm. Allerdings: wenn dies der Grund für die an mich ergangene Drohung war, dann allerdings musste Herr Maque es sich zweimal überlegen, ob er mich dieses Verdachtes wegen vor den Kadi stellen durfte.


Denn dann wäre dieser Fall auch seiner geworden. Seine Fehlleitung staatlicher Mittel wäre an die große Glocke gekommen. Und das wiederum wäre ihm wahrscheinlich schlecht bekommen. Sie wollten mir bloß eine eindrucksvolle Lehre erteilen! War das des Pudels Kern?


Aus der unverzeihlichen Sünde der Beschimpfung Lenins wäre glücklicherweise die lässliche der Zerstörung eines Bootes geworden. Ich konnte kaum den Montag erwarten. Erregt fuhr ich zur Arbeit.


Doch es geschah nichts. Ich ging in den Holzraum, in dem die Sportboote nach wie vor fein hintereinander aufgestapelt dalagen. Und immer noch, ganz verdeckt befand sich die zerfetzte Gig in tiefster Verborgenheit.


Nun wusste ich gar nichts mehr.


Hätte ich zu Herrn Maque gehen sollen, um den Hausmeister Paul anzuzeigen? Das schien mir ebenso unmöglich wie jeder andere Schritt.


Ich wollte da weg von dieser Arbeitsstelle. Es musste doch eine Tätigkeit geben, die mir gefiel und bei der ich nicht mit dem Staat und seinen Getreuen ständig in Konflikte geriet.


So kam das Jahr 1956.


Damals wurde ich von Walter Krause zum Distriktmissionar berufen.


Zeitgleich verteilte die Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse eine Reihe atheistischer Aufsätze. Sie gaben uns eine klar vorgefasste und deshalb negative Antwort auf die Frage vieler Menschen, ob es ein Weiterleben nach dem Tode gibt.


Die Argumentation der Verfasser lautete: wir haben die Personen befragt, die bereits gestorben aber reanimiert wurden. Ihre Antwort lautete in allen Fällen: Nein!


Das mussten wir so zur Kenntnis nehmen und natürlich bedenken. Ich sehe mich immer noch in unserer fünfköpfigen Priesterschaftsklasse dasitzen und höre mich über dieses Thema positiv reden.


Was wir nicht ahnen konnten: bald sollte es neue Aussagen geben. Nur wenige Jahre später, nachdem die medizinische Wissenschaft beträchtlichen Fortschritt gemacht hatte und zunehmend mehr Todeskandidaten durch ärztliche Kunst gerettet werden konnten, traten in der Öffentlichkeit immer mehr Menschen auf, die Gegenteiliges berichteten .


Immer noch glücklich verheiratet und darauf aus, doch noch etwas aus meinem bis dahin verpfuschten Berufsleben zu machen, auch begierig auf Erfolge und finanzielle Mittel, um aus dem Elend herauszukommen, folgte ich meiner Intuition. In der Presse hatte ich nämlich die Annonce gefunden: "Tollensefischerei sucht Saisonkräfte". Sofort nahm ich diese Notiz als meine Chance an. Meine schöne Frau warnte mich: “Überlege Dir gründlich, was Du tust. Selbst wenn sie Dich nehmen, dann ist es nur für ein paar Wochen.”


Ach was, ein Abenteurer wie ich kann nicht bloß in einem Büro sitzen und tote Zahlenkolonnen zusammenrechnen.” Darüber würde ich einschlafen.


Sie behalten Dich nicht. Du bist nur Hilfskraft ohne Rechte, ein Berufsfremder. Schlage die anderen Möglichkeiten, die sich Dir jetzt bieten, nicht aus.” Ich hätte nämlich anfangen können als Statistiker in einem Vertriebsgeschäft für medizinische Geräte zu arbeiten.


Doch ich war entschlossen, Fischer zu werden. Ich stellte es mir angesichts des nahebei liegenden schönen Tollensesees ideal vor, täglich auf dem plätschernden Wasser umherzufahren.


Sie nahmen mich tatsächlich an, sagten jedoch, es sei nur für sechs Wochen.


Ich hoffte, ich könnte die sechs Wochen verdoppeln, verzehnfachen, verhundertfachen. Meine Illusion war, ich könnte ein erfolgreicher Fischfänger werden und sie beeindrucken. Ich brauchte diesen Erfolg.


Doch schon am ersten Tag meines neuen Lebens stürzte es wieder über mich herein. Der Altkommunist H. Göck, Chef der Bezirksparteikontrollkommission der SED, hatte sich in den Kopf gesetzt, alle Fischerleute zum Kommunismus zu bekehren. Da saßen wir an jenem ersten Nachmittag, bevor es zum Nachtfischen hinausging, und wurden von ihm bearbeitet. Was wir schon bis zum Verdruss im Radio gehört und auf den allgegenwärtigen Propagandaplakaten gelesen hatten, das trug er uns noch einmal vor: Aller Menschen Heil und aller Segen der Gegenwart und Zukunft kann nur aus dem Moskauer Kreml kommen!


Von uns, der Klasse der Arbeiter und Bauern, erwarte er sozialistische Parteilichkeit. “Den amerikanischen Kriegshetzern muss man die geballte Arbeiterfaust unter die Nase halten.”


Für diesen hochgewachsenen, nicht unsympathischen Mann, den ich da erst kennen lernte, war es selbstverständlich, dass ihm “seine” Fischer unbesehen zustimmten. Solange wie wir nun schon in seinem geliebten Arbeiter- und Bauernstaat lebten, musste und konnte es gar nicht anders sein. Es sei doch schließlich unser aller Staat, dieser Staat der Arbeiter, Bauern und Fischer.





Wusste H. Göck nicht, dass die Mehrheit der einfachen Menschen den DDR-Staat eindeutig ablehnte? Elf Jahre nach dem Krieg mangelte es oft am Nötigsten. Die SED mischte sich überall ein. Es liefen zu viele Leute in Uniform umher. Es gab diese oft angsteinflößende Schnüffelei. Und immer wieder diese nervende, seelentötende Propaganda, diese elende verlogene Schwarz-Weiß-Malerei. Hunderte von Plakaten, Brettertafeln und Aushänge aller Art umgaben uns. An sämtlichen öffentlichen Gebäuden hingen diese Werbeträger mit den Parolen vom Sieg des Sozialismus. Bei uns im Osten sei alles gut, drüben, im Westen, sehe es trostlos aus. Aber jeder konnte vergleichen. Bei uns ging es nur langsam vorwärts, aber im Westen, gab es unübersehbaren wirtschaftlichen Aufschwung. Täglich verkündete RIAS, wie die Wechselkurse Ostgeld zu Westmark standen. Vier zu eins, vierkommafünf zu eins, das war die Regel damals.


Die Realität sprach wirkungsvoller über die Themen Arbeitsproduktivität und Effizienz der Volkswirtschaft als Kurt Hager in seinen Aufsätzen im ND.


( Noch Jahre später hieß es : Keine Butter, keine Sahne, auf dem Mond die rote Fahne.)


Wohin die Reise noch gehen sollte, stand in Stalins Schrift "Geschichte der KPdSU, kurzer Lehrgang" geschrieben. Jede einzelne Etappe lag fest. Aber jedermann sah es mit Betroffenheit voraus: die Verstaatlichung aller Handwerksbereiche würde uns auf jeden Fall nichts Gutes einbringen. Aber niemand konnte sich gegen den Lauf des Sozialismus stemmen. Was die wenigen wirklich überzeugten Kommunisten wollten, das setzten sie, vermittels ihres geheimen Machtapparates, auch durch.


Letztlich standen siebzig, in der DDR stationierte, sowjetrussische Armeedivisionen vor und hinter ihnen.


Sozialismus bedeutete: Staatliche Lenkung sämtlicher Initiativen, Kollektivierung und die Vereinheitlichung des politischen Denkens. Viele hatten vor dieser Entmündigung panische Angst. Lieber verließen sie ihre Heimat, sogar die Bauern ließen ihre von den Eltern überkommenen Wirtschaften im Stich als sich dem großen Diktat zu beugen. Insbesondere fühlten sich die Mittelbauern unerträglich bedrängt. In Ballwitz, in der Nähe von Burg Stargard hatte ich gerade ein junges Bauernehepaar gesehen das mir sagte, ihre Familien pflüge seit mehr als zweihundert Jahren dieselbe Scholle, nun würden sie in den Westen flüchten. Die junge Mutter trug ein einjähriges Kind auf dem Arm, das andere hielt sie an der Hand. Sie schaute mich mit einem Ausdruck von Hilflosigkeit an, der mir unvergesslich blieb. Es war die Summe der vielen kleinen geschickt oder plump angewandten Schikanen von Leuten, die glaubten, jetzt sei ihre Stunde gekommen. Wusste H. Göck das nicht?


Ich schaute ihn von der Seite an.


War ihm entgangen, dass gerade zu dieser Zeit in der Presse von dem Wissenschaftsstreit berichtet wurde der um Professor Stubbe’s Kritik entbrannt war.


Endlich war da einmal von Meinungsverschiedenheiten die Rede gewesen.


Altgediente Untadlige, wie Dr. Stubbe, sollten vertreten, was ihnen ihr Wissen und Gewissen verbot. Sogar mir war klar, dass Herr Lyssenko und die sowjetische Dame Lepischinskaja Falsches lehrten. Professor Stubbe nahm sich heraus diesen beiden Sowjetexperten öffentlich zu widersprechen. Er weigerte sich zu glauben, dass eine Roggenpflanze zwischen der achten bis zehnten Tochtergeneration zu einer Weizensorte mutieren kann wenn sie immer wieder zwischen Weizenbestände gesät und im Weizenfeld aufwächst (unter Spezialbehandlung des Saatgutes) .


Was hier um jeden Preis bewiesen werden sollte, lag auf der Hand.


Es ging um die These, dass die Umgebung den Menschen formt und dass die “sozialistische Wissenschaft” und das sozialistische Sein einen ganz neuen Menschentyp herausbringen wird.


Das war ihre “Masche”, wie wir damals spotteten. Sie verbogen jede Tatsache, wenn ihnen das sinnvoll oder ideologisch notwendig erschien.


Selbst Mendels Erbgesetze hatten hinter Mitschurins “Erfahrungen” zurückzustehen. Stubbe kritisierte und bezweifelte das. Gesicherte Erkenntnisse in Genetik wurden als Weißmannismus-Morganismus diffamiert. (Morgan erhielt 1933 den Nobelpreis für seine Genkartierung)





Nicht die organisch heranwachsenden Erfordernisse bestimmten den Entwicklungsverlauf, sondern das Parteiprogramm Suslows und Stalins. Um eben diesen Punkt drehte sich auch diese für mich erste Schulung im Fischerkreise. Sie fand in dem vier mal vier Meter “großen” Kulturraum der Genossenschaft statt. Dreizehn Leute saßen trotzig schweigend da. Jeder hatte seine eignen Gründe ablehnend zu sein.


Einer der jüngeren Männer, Otto Görß, das Genie unter den Fischern, konterte Göck aus. (Er hatte die einzige im ostdeutschen Raum funktionierende Unterwasserschilfschneidemaschine konstruiert, selbst gebaut und erfolgreich zum Einsatz gebracht.) Er habe während des Krieges weite Teile des riesigen Imperiums Sowjetunion kennen gelernt, sowohl die vielen strohgedeckten Hütten als auch die Kulturpaläste und viele ihrer einfachen Menschen. Er warf H. Göck vor: “Ihr macht alles mit Gewalt!” Die steinharte kommunistische Machart verursache ihm persönlich Magendrücken. Die Rücksichtslosigkeit, mit der die Welt befriedet, aber auch reglementiert und unterworfen werden sollte, läge brutal offen.


Otto sagte dem Werber Göck furchtlos, was er dachte.


So hätte ich es nicht zu äußern gewagt. Aber er, der Vater von sechs Kindern, sagte sich wahrscheinlich er habe nichts zu verlieren. Der Altkommunist Göck schaute ausgerechnet mich beistandsuchend an. Dermaßen ungeschminkt war ihm schon lange keiner gekommen. Wenigstens von den Jungen hatte er volle Zustimmung erwartet.


Ich gab den aufmunternd gemeinten Blick zwar freundlich zurück konnte mich jedoch nicht bremsen, wenigstens zu sagen: “Nachdem ich Chrustschows Enthüllungen auf dem XX. Parteitag der KPdSU gründlich gelesen hatte, bin ich mit Otto einer Meinung.” Ziemlich schnell setzte ich hinzu: “Ich habe mir die Zeitungsberichte des 'Neuen Deutschland' vom Februar aufgehoben.” Göck verzog den Mund. Aber ich gab noch eins oben drauf: “Da muss sich noch viel ändern.” Göck verschluckte sich: “Enthüllungen. Was für Enthüllungen?”


Er schaute mich durchdringend an. Er war völlig überrascht, dass da noch jemand war der ihm widersprechen wollte, dazu noch ein Neuling der als Nichts aus dem Nichts auftauchte und sich herausnahm, ihm dem berühmten Göck, die Stirn zu bieten. “Ja und?” fragte er mit knarrender Stimme zurück, wahrscheinlich hoffend, dass ich nichts Konkretes sagen könnte. Aber da irrte er sich. Ich war in meinem ureigensten Element. Zeilenweise hatte ich mir die wichtigsten Sätze seines Generalsekretärs Walter Ulbrichts gemerkt. Nun war es endlich heraus: Stalin hatte seine eigenen kommunistischen Genossen verfolgt und getötet.


Wen wollte Göck rügen? Mich?


Ulbricht hatte sich allerdings, wie zwischen den Zeilen zu lesen war, nur zähneknirschend von Stalin distanziert.


Er war das große Ungeheuer von dem der Westen immer geredet und gewarnt hatte.


In alledem fand ich bestätigt was ich in den zurückliegenden vier Jahren herausgefunden hatte, nämlich, dass marxistisch-leninistisches Denken eine Entwicklung in die falsche Richtung zulässt. Der Ansatz war falsch. Der Wunsch seitens der Ideenträger war, die menschliche Seele umzubiegen, sie zurechtzubiegen.


Ich trug meine negative Analyse allerdings nur vorsichtig vor. Soviel stand nun fest: der Kommunismus entwickelte zu wenig Motive gegen die Lüge.


H. Göck fragte mich direkt, wer ich bin und ich sagte ihm unumwunden: “Ich bin ein aktiver Mormone.”


Innerlich hat er sicherlich gestöhnt: auch das noch! Zugleich sah er ein, dass ich mir über seine Ziele längst mein Urteil gebildet hatte. Das war es was mich an meiner Kirche faszinierte. Es ging immer nur um die Wahrheit. Ich hatte von meinem Vater gelernt, dass Unwahrheiten unter gar keinen Umständen ein tragfähiges Fundament bilden.


Mit Ausnahme der Tage meines Intermezzos mit der verheirateten Frau in K. war für mich nichts anderes wichtiger gewesen als die Wahrheitssuche.


Das Letztere behielt ich natürlich für mich.


Jeder sah dem hageren Gesicht Göcks an, wie stark es in ihm arbeitete und wie sehr er sich ärgerte.


So nicht!” schrie er unbeherrscht los, weil ihm sein Auftritt dermaßen misslungen war. “So lässt sich die Staatsmacht nicht auf der Nase herumtanzen.” Er beteuerte seinen festen Willen, alles zu tun, um diejenigen zu Verstand zu bringen, die damit noch ihre Probleme hätten. Er ging offensichtlich bitter enttäuscht heim. Wir aber fuhren zum nächtlichen Fischfang mit dem marodesten aller Kutter, die ich je gesehen habe auf den 18 Quadratkilometer “großen” Tollensesee, der sicherlich zu den schönsten Norddeutschlands gehört.


Wir standen noch Stunden später nachdenklich da, zogen die ausgelegten Netze herein und tauschten in dieser langen, gewittrigen Nacht unsere Gedanken aus. Mir gellte immer noch der Ausruf des galligen Genossen H. Göck in den Ohren: “Entweder steht man links oder rechts! Wer zwischen die Fronten gerät, wird zermalmt.” Wobei er mich ernst angeschaut hatte.


Seine Art zu werben war das. Vermutlich hielt er sich für einen großen Menschenkenner. Sah er wirklich nicht, dass uns dieses kompromisslose und überharte “Die oder Wir!” erschaudern ließ? Das war so leicht gesagt, als handele es sich um Krankheitserreger, die man bekämpfen muss, um zu überleben und nicht um Menschen und Menschenschicksale.


Nicht einer der dreizehn Männer hatte dem Mann Göck zugestimmt. Keiner wollte sich seiner Partei anschließen. Dabei begehrte er so sehr, aus jedem von uns einen Kommunisten zu machen oder wenigstens einen sowjetparteilichen Sozialisten. Mit dem Gruß, er würde wiederkommen, hatte er uns entlassen!





Auch wenn ich seine Art nicht mochte, das Recht auf seine andere Gesinnung gestand ich ihm innerlich zu, aber auch mir stand es zu sowie jedem katholischen oder evangelischen Geistlichen, jedem Freidenker, jedem wahren Muslimen.





Fast alles, was ich je befürchtete hatte war in den Frühlingstagen des Jahres 1956 durch die in der Parteipresse der DDR verbreiteten Offenlegungen bestätigt worden. Es hatte in Russland den landesweiten Terror der zwanziger und dreißiger und vierziger und fünfziger Jahre gegeben. Das konnte niemand mehr leugnen.


Diese Menschenjagden waren durch nichts weiter als den krankhaften Argwohn des Diktators Stalin begründet (den allerdings Hitlers Stellvertreter Heydrich geschickt forciert hatte, was dazu führte, dass der in der Roten Armee beliebte Marschall Tuchatschewskij im Handumdrehen von der Tscheka ermordet wurde.)


Im Ersten Arbeiter- und Bauernstaat wurden wegen der Wahnvorstellungen eines einzigen Mannes hunderttausende unschuldige Menschen umgebracht, Millionen wurden von der nackten Angst gehetzt – und die ganze große Partei konnte nichts ändern! Schlimmer als zu römischen Sklavenhalterzeiten galt im kommunistischen Imperium der Einzelne nichts. Keine Institution in der riesigen Sowjetunion konnte ihm Schutz bieten. Monatelang, jahrelang, jahrzehntelang ging das so! Selbst die bis an die Zähne bewaffnete Armee konnte nichts dagegen tun und eben diese Handlungsunfähigkeit der mächtigsten Institutionen des Landes zeigten mir, dass sie keine humanistische Funktion erfüllten. Alle waren ratlos gewesen angesichts der sich verselbständigenden mörderischen Maschinerie, deren Teil sie zumeist ungewollt waren.


Seit dem XX. Parteitag der KPdSU wussten wir es nun amtlich. Ich sah alles bildhaft vor mir. Es hätte den Protestschrei der ganzen Menschheit auslösen müssen.


Eben deshalb war ich selber mehr denn je Mormone!


Wir hatten Angst”, antwortete sogar Nikita Chrustschow während der Konferenztage auf anonyme Anfrage, warum Männer wie er den Mund gehalten hätten. Angst. Ja, es sei wahr, er habe sogar den Krakowiak auf Wunsch des unberechenbaren Diktators getanzt. Seine Genossen lachten nicht wirklich, als er das berichtete. Sie stellten sich vor, sie persönlich wären an Stelle dieses Pyknikers gewesen und sie hätten, wie er auf dem tückisch blanken Kremlparkett die Beine um ihr Leben werfen müssen. Wie er hätten sie die zitternden Knochen herumschleudern müssen und wie er angstschwitzend noch gelächelt, bloß weil der schnauzbärtige Isegrim es ankommandierte. Genau wie der Genosse Nikita Sergejewitsch hätten sie gebangt, na, ist der Satan Stalin zufrieden oder schickt er dich nach Workuta, ins Jenseits des Polarkreises?


Chrustschow hatte in seiner erst später bekannt gewordenen Geheimrede noch viel mehr enthüllt. Das waren Worte wie Hammerschläge gewesen, unüberhörbar, zutreffend, wie Luthers Thesen. Und wie seine Sätze in wenigen Wochen jedes Deutschen Herz für Luther einnahmen, so nahmen alle Hörer die Anklagen Chrustschows mit großer Hoffnung auf. Fast hätte er dem alten System den Todesstoß versetzt. Aber er war eben kein Luther.


Angst kann nicht das Mittel einer gerechten Herrschaft sein. Im Buch “Köstliche Perle”, im vierten Moseskapitel fand ich jedes Mal die Bestätigung für die Existenz des eigentlichen Verursachers dieser Angst, von dem auch Nephi und Jesaja unmissverständlich gesprochen hatten…. der nach Lehis Worten danach trachtet alle Wesen so unglücklich zu machen wie er selber ist.


Auch deshalb beschloss ich noch eifriger in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage mitzuarbeiten um Menschen zu finden die sich ihr anschließen möchten, weil es, wie wir sahen, gar nicht anders ging als das Gesetz der Nächstenliebe und der Furchtlosigkeit zu leben, sowie den Grundsatz des Individualrechtes auf Entscheidungsfreiheit in jedem Menschenherzen zu festigen.


Ich wollte wenigstens so viel erreichen, dass meine Gesprächspartner den Wahrheitsgehalt des Buches Mormon prüften. Was die meisten höflich aber bestimmt, aus tausend verschiedenen Gründen, ablehnten. Fast jeder war sonderbarerweise von vornherein überzeugt, dass solche Prüfung nichts einbringen würde. Dennoch brachten Kurt Meyer und ich vier Menschen zur Kirche.





Mir gefiel die Arbeit in der Fischerei, weil sie interessant war. Jede Minute änderte sich das Gesicht meiner Umgebung. Jeder Morgen zeigte uns, wie es schien einen neuen See. Wie der Himmel sich färbte, so widerspiegelte ihn das Wasser. Sturm oder Windstille, Abendstimmung und Sonnenaufgang änderten den Ausdruck des Gewässers. Fangerfolge und Niederlagen, steigender oder sinkender Verdienst je nach Glück, je nach Bemühen, das Gefühl und die Tatsache, zugleich Glücksspieler und Fleißarbeiter zu sein, bestimmten den Rhythmus meiner Tage. Das war die Rolle meines Lebens. Ich liebte es und durfte schließlich in der Fanggenossenschaft bleiben, weil die Männer sahen, dass ich das Fischefangen mit ganzer Hingabe betrieb. Sie stellten mich fest ein. Sie schmunzelten zuerst, diese Naturkinder, lästerten aber nicht, weil ich mitunter, während der Fahrt zu den Fangplätzen, im Boot in der Bibel las. Sie haben mich nie wirklich belästigt und mich nie genötigt Alkohol zu trinken.


Mehrheitlich mögen meine Fischerkollegen nicht sehr belesen gewesen sein, aber das Handbuch für Toleranz und Ehrlichkeit beherrschten sie gut. Sie hatten noch nie einen Fischer in ihren Reihen gehabt, der auf dem See Gedichte schrieb. Aber da ich auch etwas zu Papier brachte, über das sie lachen konnten, hatte ich bald ihre Herzen gewonnen.


Einmal musste ich schnell einen Artikel über die Fischerei für die Zeitung schreiben. Ich brachte die kleine Adler-Schreibmaschine mit in die enge Kutterfahrerkabine. Die Männer schauten auf, keiner sagte etwas. Unmittelbar vor und neben uns tuckerte der schwarze, uralte, langsamlaufende Dieselmotor. Da er im Winter angenehme Wärme verbreitete, hockten wir oft eng beieinander und nahmen die dazugehörenden Unannehmlichkeiten gern auf uns. Einer der Männer zog sich die Schreibmaschine auf den Schoß und hielt sie mir arbeitsgerecht hin. So konnte ich die Arbeit während der üblichen Fahrstunde zu Ende bringen. Sogar an den Entwurf zu einem Drama wagte ich mich heran, schrieb ganze Teile von ihm in der schwarzen Kabine. Es sollte “Philipp und seine Maurisken” heißen. Das Ergebnis gab ich einem Dramaturgen des Friedrich Wolff Theaters in Neustrelitz. Nachdem er es gelesen, bemerkte er, dass ich absolut keine Ahnung vom Theaterspielen hätte. Ich solle Harald Hausers Stück “Der himmlische Garten” studieren und mir besonders die Regieanweisungen des Autoren ansehen. Dann würden sie mich einladen und mir zeigen, was sich vom Standpunkt der Theaterleute aus rings um die Bühne herum ereignet. “Sie haben ein paar sehr schöne Verse geschrieben, aber so wie Sie das Stück angelegt haben, ist es unspielbar.”


Ich wusste nicht, dass die Dramaturgen mich dem Leiter der damals gerade gebildeten Gruppe “Junge Autoren”, Horst Blume, empfohlen hatten. So erhielt ich überraschend eine Einladung zu einer Arbeitstagung. Ich nahm sie an. Mir gegenüber saßen Alfred Wellm und Joachim Wohlgemuth. sowie, zu meinem Erstaunen noch ein anderer Binnenfischer, Gerhard Diekelmann aus Kummerow. Im Schulungsteil meiner ersten “Junge-Autoren-Tagung” ging es um Inhalte der Rede des Genossen Surkow auf dem XX.Parteitag. Surkow forderte, dass die Literaten die Schwäche der äußerst unzulänglichen Behandlung der theoretischen Probleme der marxistischen Ästhetik überwinden müssten. Das Leben selbst beweise, dass ein Schriftsteller, der dem Leser ein kluger und geschätzter Berater sein wolle, beim Aufbau des Kommunismus selbst in vorderster Front stehen müsse. “Freunde und Genossen,” sagte Horst Blume zusammenfassend, “wir haben keine andere Aufgabe und kein größeres Anliegen als dem Aufbau des Sozialismus von ganzem Herzen und mit unserer Kunst zu dienen.”


Das hast du doch gewusst!” sagte ich mir, “oder hast du etwas anderes erwartet?” Mein Wunsch, lernen zu wollen, war jedoch größer als meine Sorge, wieder einmal anzuecken. Schließlich konnte ich denken und schreiben, was ich wollte. Das Handwerk des Schreibens zu erlernen war mir wichtiger, als mich schon wieder in unfruchtbare Grundsatzdiskussionen zu stürzen. Deshalb hielt ich mich, zunächst, sehr zurück. Ich sagte mir auch, vielleicht wandelt sich das Gesicht des Kommunismus doch noch zum besseren.


Joachim Wohlgemuth las an diesem Tag aus seinem Entwurf zu “Egon und das achte Weltwunder.” Die Kritik an der Person Egon, die er beschrieben hatte, war recht scharf. …


In der nächsten Zusammenkunft sollte ich vorlesen. Ich bereitete mich gut vor. Nach höchstens drei Minuten wurde ich unterbrochen. “Schreiben kannst Du ja, aber was soll das? Was gehen uns die spanischen Granden und Herrschaften an? Wen willst Du damit erleuchten, hilft das unserer Sache des Sozialismus? Bringe bitte nächstes Mal eine brauchbare Geschichte mit.” Aus.


Dabei hatte ich mir vorgestellt, dass ein historisches Drama alles hergeben könnte. Es kann Kenntnisse über eine wichtige Epoche der Geschichte vermitteln und lässt Schlussfolgerungen daraus zu. Meine Absicht war, einen geschichtlichen Vergleich zwischen Damals und Heute zu ziehen. Hier die untaugliche Diktatur der Kirchlichen, da die gefährliche Diktatur des Kreml. Obwohl zwischen den Geschehnissen Jahrhunderte lagen, erwiesen dieselben Fehler gleiche Folgen.


Mein Stück sollte zeigen, wie bedeutend die spanischen Araber gegen Ende des Mittelalters geworden waren, wie viel wir Abendländer von ihrem Wissen und Können profitierten und wie wenig wir es ihnen gedankt haben. Meine Absicht war darzustellen, dass Spanien trotz bester Voraussetzungen, Europas führende Nation zu bleiben, als Staat an seiner ideologischen Engstirnigkeit zugrunde gegangen war. Philipp II. (und auch seinem unfähigen Sohn und Nachfolger Philipp III.) halfen all diese Goldzufuhren aus der Neuen Welt nur wenig. So wenig, wie den Sowjets das Gold der Kolyma wirklich weiterhalf.


Indem die führenden christlichen Spanier ihre moslemischen Mauren, ihre fleißigsten Ackerbauern und Landschaftsgärtner, verfolgten und drangsalierten, legten sie den Grund zur Zerstörung ihres eigenen Werkes. Sie waren der törichten Überzeugung gewesen, es sei Christenpflicht, Andersglaubende mit der Peitsche zu Jüngern Jesu zu machen. Die Folgen dieser Sünde sollte ihnen das Rückgrat brechen. Umgekehrt gab es während der Jahrhunderte der ungebrochenen Maurenherrschaft auf der iberischen Halbinsel tatsächlich Glaubensfreiheit und die daraus erwachsenden Segnungen der Zivilisation. Juden, Muslime und Christen durften verehren, wen und wie sie wollten. Sie gingen in ihren spanischen Kalifaten wie Menschen miteinander um. Aber als schließlich die Fahne des siegreichen Kreuzes auf der Alhambra Granadas wehte und das Kreuz über den Moscheen errichtet wurde, kam sofort auch die Gewissensknechtung zum Vorschein. Und als Konsequenz die brennenden Scheiterhaufen.


Aus Mitbürgern moslemischen Glaubens wurden Ketzer. Die herrschende spanische Klasse duldete kein Ketzertum. Es gab nur das diktatorische Entweder-Oder. Das Leben nach ihren Regeln oder den Tod.


Keine Nation zwischen 1500 und 1600 war so mächtig, so einflussreich wie Spanien gewesen. Aber was haben die Regenten des Reiches aus ihren Möglichkeiten gemacht? Ein Reich der Inquisition, der Gedankenüberwachung durch gewisse Organe, die ich im Staatssicherheitsdienst wieder erkannte! Überall traf ich diese Parallelen an. Die Neustrelitzer Theaterleute sahen trotz der enormen Schwächen, die mein Sujet zeigte, seine Aktualität. Die Erkenntnis war, dass eine Armada an Kriegsgerät kein Garant für Fortschritt und Bestand ist, dass keine noch so starke Armee Güte und staatsmännische Weisheit ersetzen kann. So gut wie ich konnte, hatte ich diese Aussage getroffen und sie zugleich durch Rückverlagerung in längst vergangene Epochen ziemlich verpackt.


Meinem Gefühl nach waren sie mit mir einverstanden, sie wollten mich fördern.


Elisabeth Elten-Krause eine Mitarbeiterin des Klubs “Junge Autoren”, fragte mich im Pausengespräch: “Deine Religiosität ist unübersehbar, aber wozu brauchen wir heute noch Religion?” Ich erwiderte: “Weißt Du, dass meine Religion Rechtschaffenheit heißt? Ich bin Mormone.” Möglicherweise habe ich sie zu ihrem kurz danach in der Satirezeitschrift “Eulenspiegel”" veröffentlichten Spottgedicht “Möchtelmann” inspiriert. Denn sie lachte, als ich sagte, ich halte Mormonismus für ebenso bedeutend wie den Kommunismus. “Es kommt nicht darauf an, etwas Großes zu wollen, sondern es muss umgesetzt werden können”, erwiderte sie in Anspielung auf das entsprechende Sonett Michelangelos, in dem er zusammenfassend beklagt, dass er nicht immer das Gesollte habe wollen und wünschen können. Sie wandte sich ab und ließ mich stehen.





In der Folgezeit kämpfte ich mit meinem Stoff und konnte ihn doch nicht beherrschen. Immer wieder stieß ich an die Grenzen meiner Möglichkeiten. Mein Wille war größer als mein Können. Es gab auch äußere Unstimmigkeiten. Zwar schien mir, dass der spanische Kardinal Don Juan de Ribera, als einer der auf Vertreibung der Maurisken drängenden Figuren, in einigen Führern der Sowjetunion durchaus seine Entsprechung hatte. Da waren viele gewesen, die Stalins seelenlose Innenpolitik einschließlich seiner rigorosen Umsiedlungsanweisungen für ganze Völkerschaften aus Parteifanatismus unterstützten. Es waren eisenharte Männer wie Molotow, die den Tyrannen an Tyrannei noch zu übertreffen versuchten. (Wo Stalin die Todesstrafe forderte, verlangte Molotow, wie das ND zu berichten wusste, auf derselben manchmal seitenlangen Exekutionsliste die Höchststrafe, nämlich die Mitbestrafung der Ehefrau, die Einweisung der Kinder des zumeist völlig Unschuldigen in ein staatliches Kinderheim, die Löschung des Familiennamens dieser Kinder und die Konfiskation des Vermögens.) Auch der bigotte Staatsminister Philipps des Dritten, Herzog von Sandoval und Lerma, fand sich als Typ in nicht wenigen herzlosen Ämterjägern des kommunistischen Systems wieder. Seine Gier nach immer mehr Besitz, sein Sicherheitsdenken, seine Rücksichtslosigkeit gegenüber Schwachen, war keineswegs einmalig. Aber es gab damals kein mir bekanntes Beispiel für Lermas Gegenspieler Kardinal Xavierra, der sich für das Verbleiberecht der bedauernswerten Maurisken einsetzte.


In der Sowjetunion hatte es meines Wissens keine Fürsprecher für die Kulaken gegeben. Aber so wie das jüngere, das kommunistische Imperium unter der gegen ihre Bauern gerichteten Ausrottungspolitik eine ganze Generation lang aufs schlimmste leiden sollte, so war bereits das ältere Imperium, Spanien, daran wirtschaftlich zugrunde gegangen.


Als ich in Lenins Werken den Brief des Vaters der Sowjetunion las, der die Überschrift trug “Tod den Kulaken!”, und über seine Folgen nachdachte, da wusste ich, dass die Menschheit dazu verurteilt ist, immer wieder aufs Neue dieselben bitteren Erfahrungen zu sammeln, weil sie nur sehr widerwillig lernen will, aus Fehlern die richtigen Schlüsse zu ziehen. Dass es Menschenpflicht ist, auch unter Preisgabe des eigenen Lebens zu Gunsten der Kinder Diktaturen zu verhüten.


Das war es was Joseph Smith wiederholt gesagt hatte: “Wir müssen nicht immer wieder die Fehler unserer Vorfahren begehen!”


Schließlich konnten weder der Herzog von Lerma noch der Diktator Lenin ihre Mittelbauern mit ihren eigenen Händen erwürgen. Doch mittels ihrer Position legten beide den Grund zu den aus ihren unverantwortlichen Meinungsäußerungen geborenen Mordtaten. Beide wären persönlich vor solcher Verwirklichung gewiss zurückgeschreckt. Wenn man sie mit den schlimmsten Ergebnissen ihrer Politik konfrontiert hätte, würden sie sich bekreuzigen und laut schreien: das haben wir nicht gewollt.


Doch ohne ihre Meinungsführerschaft wären diese schrecklichen Menschenjagden nicht passiert.


Ich bin überzeugt, dass der Tag kommt, an dem die Verteidiger der Diktatur die Originalberichte sehen werden, ob sie wollen oder nicht.


(Die im Buch Mormon agierenden Völker können ein Lied von solcher Brutalität der Machtgierigen singen. Aber sie zeigen auch, dass man nie aufgeben darf und dass das Recht auf individuelle Entscheidungsfreiheit seine Grenze da hat, wo Aktivitäten ausgeübt werden sollen, um es abzuschaffen.)


Jahrelang beschäftigte mich die Frage, wie sich dieser Wladimir Iljitsch Uljanow herausnehmen durfte, zwölf bis zwanzig Millionen Menschen, zwei Millionen russische Großfamilien der physischen Vernichtung preiszugeben, weil er sich - wenn auch vielleicht zu Recht - darüber geärgert hatte, dass die Bauern sich zu wenig anstrengten, die Städte mit Getreide und Fleisch zu versorgen. Das Problem, dass eine Kuh keine Milch hergibt, lässt sich auch anders lösen, als sie und ihre Kälber in den Abgrund zu stürzen. Schlimmer als in Spanien wütete in Russland danach zwanzig Jahre lang der Hunger in den Gedärmen derer, die sich zur Verteidigung des Menschenrechtes auf Leben nicht aufraffen konnten. - Kannibalismus aus Hungerwahn war ein Jahrzehnt lang im Wolgaraum keine Seltenheit. -


Im Gegensatz zu den russischen Anhängern der Despotie hatte die herrschende spanische Klasse ihre Ernährer nur vertreiben, nicht töten wollen. Nicht wenige Sowjetkommissare dagegen hatten sehr wohl den Aufruf ihres Hauptes mit der Pistole umgesetzt.


Wie sollte ich etwas auf der Bühne geschehen lassen, das die ganze Verruchtheit von gewaltsamer Menschenführung offen legte und andererseits keinen Kurzschluss provozierte? Mit wem hätte ich mich beraten können? Zwar half mir das Studium der handwerklichen Kunst Harald Hausers weiter, doch ehe ich kein neues Konzept für mein Theaterstück hatte, wollte ich mich in Neustrelitz nicht wieder sehen lassen. Das war ein Fehler, der mir bis heute leid tut.


In der Arbeitsgemeinschaft ließen sie mich, meiner momentanen Zahmheit wegen, allerdings in Ruhe und da wir einander noch längst nicht kannten, ging mein Anliegen unter. Nur Buchautor Alfred Wellm nahm noch Anteil an mir und sagte: “Du solltest darüber schreiben, wie Du Deinen Glauben überwunden hast. Das wäre doch durchaus interessant.”


Natürlich überprüfte ich unentwegt meine Glaubensansichten. Die Umstände und meine Wesensart trieben mich immer wieder an, jeden Satz meiner Grundüberzeugung ständig zu hinterfragen. Ich stellte mir auch die Frage nach der Berechtigung meiner scharfen Kritik - und ob ich mir nicht denken könnte dieselben geschichtlichen Ereignisse bewusst positiv zu deuten.





Damals während der Zeit der Missionspräsidentschaft von Elder Gregory gab es einen Schreibewettbewerb der Kirche im Rahmen der GFV den ich mit dem Dramenentwurf “Asoka” gewann.



Da brach am 23. Oktober 1956 der Aufstand der ungarischen Studenten los.


Tausende Arbeiter schlossen sich ihnen spontan an. Einmütig und diszipliniert versammelten sie sich auf dem Budapester Stalinplatz. Sie verlangten mehr Freiheit. Imre Nagy, der drei Jahre zuvor Ministerpräsident geworden war, hatte inzwischen sämtliche Parteiämter verloren. Er hatte Volkes Wünsche ernst genommen und ihnen all zu weit entsprochen. Das kostete ihn die von Moskau nur geliehene Macht. Sie wollten ihn wiederhaben.


Das war mehr denn je Volkes Wille.


Die folgenden Tage sollten das bestätigen.


Doch des Volkes Wille galt den ganz großen Parteistrategen wieder einmal nichts. Panzer mit roten Sternen walzten ihn platt.


Stundenlang hockten wir vor den Radiogeräten und bangten mit den Schwachen gegen die Übermächtigen. Wir vernahmen tagelang die Hilfeschreie und konnten nur jammern. Die Augenzeugenberichte österreichischer Reporter hatte nahezu jeder gehört mit dem ich sprechen konnte. Wir ergänzten einander unseren Wissensstand und waren schließlich nach dem Zusammenbruch der Revolution betroffener als je zuvor. Denn allmählich waren so viele neue Erkenntnisse dazu gekommen, dass wir über die unbezweifelbare Hinterhältigkeit und Verlogenheit der Verhandlungsführung der Sowjets mit der ungarischen Staatsführung mehr als empört waren.


Ich schwor mir abermals, den Kremlführern kein Wort mehr zu glauben, egal wie andere Menschen sich verhalten würden.





Im Herbst kam Henry D. Moyle im Auftrag unseres Propheten David O. MCKay nach Leipzig.


Wir waren vielleicht fünfhundert Brüder, die er belehrte wie wir vielleicht noch nie belehrt und unterrichtet wurden. Wir erlebten eine ganze Stunde Heiterkeit in der Präsident Moyle uns schilderte wie er um die Jahrhundertwende in Freiberg, wo er studiert hatte von der königlich sächsischen Polizei verhaftet wurde.


Es bedeutete mir viel als er mir, wie allen anderen, die Hand zum Abschied reichte und dabei die Worte sagte: “Der Herr segne Sie, lieber Bruder!” Denn es waren ja nicht allein die Worte die uns beeindruckten, sondern die Kraft die von ihm ausging, der Wunsch dass wir treu bleiben sollten.





Es kam der Sommer 1957. Erika und ich wurden von meinen Eltern eingeladen, sie in die Schweiz zu begleiten, nach Zollikofen, in den Tempel, den zweiten europäischen, nach dem Londoner, den unsere Kirche dort errichtet hatte. Ich bekam zehn Tage Urlaub und so fuhren wir nach Zollikofen, zunächst allerdings nach Darmstadt. Dort hatten wir einen weiteren Zwischenaufenthalt einzulegen. Wir mussten zum Einwohnermeldeamt gehen, um die Staatsbürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland zu erwerben. Mit unserem DDR-Pas hätten uns die Zöllner nicht in die eidgenössische Republik einreisen lassen. All das lief zu meinem Erstaunen problemlos ab. Binnen einer halben Stunde hatte ich meine zweite deutsche Staatsbürgerschaft erworben. In diesen knapp dreißig Minuten Bearbeitungszeit schaute ich mich auf dem Polizeirevier um. Da hingen flächendeckend Steckbriefe von Mördern. Sie suchten achtzehn namentlich bekannte Schwerstverbrecher. Ich dachte, du großer Himmel, was für eine Welt! Es gibt mindestens zehnmal soviel Leute, von denen sie keine Namen haben. Was soll uns bloß die Zukunft noch bringen? Die zunehmende Verstädterung der Menschen, diese wachsende Künstlichkeit, die ein massenweises Beieinanderwohnen mit sich bringt, musste immer mehr Menschen aus dem seelischen und physischen Gleichgewicht stoßen. Als wir uns im Gemeindeheim der Darmstädter Mormonen zur Weiterfahrt versammelten, überreichte mir der Hausmeister einen Brief Walter Roloffs, Erikas Jugendfreund (sie waren im selben Haus in Neubrandenburg aufgewachsen. Durch Walter, der später viele Jahre als Bischof in Bountiful dienen sollte kam sie mit Mormonismus in Berührung und er war es der sie 1950 taufte.) “Lieber Gerd, liebe Erika! Der Mann, der Euch diesen Brief übergibt, übernimmt umgehend eine bessere Tätigkeit. Gerd kann seine Nachfolge antreten. Damit hättet Ihr Wohnung und Brot. Aber, wenn Ihr wollt, nur für ein Jahr. Wir bereiten inzwischen Eure Einwanderung in die USA genau so vor, wie Gerhard Kupitz es vor zwei Jahren mit uns gemacht hat...” Das hörte sich gut an und am liebsten hätte ich augenblicklich Ja gesagt. Der Gedanke, USA Bürger zu werden, erschien mir sehr verlockend. Doch ich hatte das dringende Gefühl, wir Übriggebliebenen sollten die DDR nicht verlassen. Das war auch, was Präsident Mc Kay uns angeraten hatte.


Erika war noch stärker als ich motiviert, das Angebot abzulehnen. Sie wollte ihre Mutter nicht im Stich lassen. So reisten wir weiter nach Süden im Bewusstsein, DDR-Bürger wider Willen zu bleiben.


Wir kamen mitten in der Nacht an. Scheinwerfer beleuchteten das blendend weiße Bauwerk, das wir schon auf Bildern bewundern konnten. Schlicht in der Form, beeindruckte es uns sehr. Zwei verschieden große Quader waren als Körper übereinander gesetzt worden. Davor breitete sich auf einer riesigen Rasenfläche eine Fülle von Blumen und Stauden aller Art aus, die, wie wir bei Tageslicht feststellten, farblich wunderbar miteinander harmonierten. Allerdings von den ragenden Bergen sahen wir nichts, denn es regnete.


Ich ging in den Tempel, fast wie ein Analphabet in die Schule. Das Interieur des Empfangsraumes war dem eines Luxushotels vergleichbar.


Große Blumenpracht, dicke großflächige, helle Teppiche. Am elegantesten der celestiale Raum, sehr schön ausgestattet auch die Siegelungsräume. Ich bemerkte das alles, auch die geduldige Freundlichkeit der völlig in weiß gekleideten Tempelarbeiter.


Als wir am frühen Nachmittag den Tempel verließen, leuchteten zur Linken die Berner Alpen als bezauberndes Panorama.


Das Tempelritual gab mir und uns viele Fragen auf. Da uns nicht gestattet ist, über Einzelheiten zu reden, muss es jeder selbst verstehen lernen, was hinter dieser ungeheuren Fülle der dort übermittelten Symbole steckte. Ich begriff wieder einmal eindringlich, dass der unsterbliche uns innewohnende Geist aus dem Vaterhause Gottes kommt, und dorthin nur unter der Bedingung zurückkehren kann, dass er rein wird, und dass deshalb jedermann, der sein Tempelendowment empfängt, unter keinen Umständen das Gesetz der Reinheit brechen darf.


Für den Outsider, der nicht tolerieren kann, dass Mitglieder nach dem Tempelbesuch nur wenige Tatsachen erwähnen aber nicht über weitere Einzelheiten des “Endowment” sprechen, ist das gelegentlich ein Anlass mehr, die Mormonen in die Kategorie Sektierer einzuordnen und zu diffamieren.


Vom Zug aus sahen wir während der Heimfahrt noch einmal für ein paar Sekunden den von Licht angestrahlten, weiß-gold wirkenden Tempel und nahmen von ihm die angenehmsten Erinnerungen mit. Darunter die, dass ich aus dem Begabungsraum des Tempels einen blinden Mann geführt hatte, der plötzlich zu weinen anfing. Ich fragte ihn, ob er sich nicht wohl fühle. Er antwortete: “Im Gegenteil!” Dass er seit neunzehn Jahren nur in einen unendlich tiefen, schwarzen Sack geblickt hat, doch während der Session habe er ein farbiges Bild gesehen.


Zwanzig Stunden später vereinnahmte uns wieder die DDR-Realität.


Als Mitglied der Tollensefischereigenossenschaft fühlte ich mich, wie meine Kollegen, in jenem Jahr 1957 vom Pech verfolgt. Es war ein miserables Fischfangjahr. Hinzu kam das eigene Unvermögen. Um wirtschaftlich überleben zu können, musste das Unternehmen von dreizehn Fängern auf acht oder maximal neun reduziert werden. Im Oktober standen wir nahezu mittellos da. Der Buchhalter wusste nicht, woher er das Geld für weitere Lohnvorschüsse nehmen sollte. Zu diesem Zeitpunkt mussten normalerweise bereits die finanziellen Reserven für die lange Winterruhe auf dem Betriebskonto liegen. Die Entscheidung, wen die Entlassung treffen würde, fällte der Vorstand.


Vier Altgediente traf es hart, die ältesten, die Unschuldigen. Sie hatten protestiert, dass während der Arbeitszeit Alkohol getrunken wird. Zähneknirschend hatten sie hinnehmen müssen, dass ganze Fangtage versoffen wurden, und nun sollten sie die Zeche bezahlen. Die Ungerechtigkeit bestand darauf und setzte sich durch. H.Göck, mittlerweile Ehrenmitglied der Tollensefischereigenossenschaft wütete vergeblich. Im Sozialismus dürfe es keine Entlassungen geben.


Ob er denn einen praktikablen Ausweg wüsste. Die Dringlichkeit der Rentabilität machte ihn verstummen.


Im folgenden Wirtschaftsjahr, obwohl der neue Sommer sich von der besseren Seite zeigte, war die Finanzlage der kaum nachlassenden Trinkerei wegen ähnlich bedenklich. Und wieder lief unser Buchhalter mit dunklen Stirnfalten umher. Da begannen wir aber, sozusagen in letzter Minute, ab fünften Oktober, - wie ich nie vergessen werde- unerwartet erfolgreich zu fischen. Wir fingen erhebliche Mengen wertvoller Großbrassen. Erstmals brachten wir Hechte, Zander und Karpfen in größeren Mengen von den Seen heim. Die eigentlich nicht gewollte, jahrelange Schonung der Gewässer machte sich nun bemerkbar. Plötzlich zeichnete sich ab, dass wir sogar mit einer größeren Gewinnausschüttung rechnen durften. Diese Aussicht machte uns kühn. Denn das Wirtschaftsjahr war noch nicht abgeschlossen. Ich sah den Beginn der Lösung meiner finanzieller Probleme und freute mich übermäßig und musste meine Euphorie durch Schreiben abreagieren. Denn in der Fischerei sind Zufallstreffer immer möglich. Es gab genügend Beispiele dafür, dass die ärmsten Schlucker durch Massenfänge schlagartig unglaublich reich wurden. Natürlich beflügeln drei hintereinander eintretende Glücksfälle die Phantasie.


Ich schrieb also ein Gedicht gegen meine sich unerwartet aufblasende Gewinnsucht. H. Blume., der Leiter der Autorengruppe las es und sagte, es erinnere ihn entfernt an Uhland. Es sei aber völlig unzeitgemäß. Wir kamen vom Haus des Handwerks und langten gerade vor dem Eingang des Vier -Tore -Hotels an, als ich ihm die Frage stellte, ob er von der Wahrheit und Richtigkeit des sozialistischen Kurses wirklich überzeugt sei. Wie aus der Pistole geschossen antwortete er: “Absolut!” Ich wunderte mich, dass ein so kluger Mann wie er so leichtfertig war. Solange wir Menschen sind, wissen wir nichts absolut. Ich glaubte aus guten Gründen an Gott, aber ich wäre unredlich gewesen, wenn ich gesagt hätte, meine Überzeugung sei absolut. Das sagte ich ihm offen. Er schaute mich düster an. Er muss aber die Berechtigung meiner Kritik eingesehen haben. Das bereitete ihm sichtlich Unbehagen. Er hatte schon früher bemerkt, dass ich nicht gewillt war, mich von seinem Strom treiben zu lassen. Verärgert wird er sich gefragt haben, ob es nicht besser wäre, mich aus der Arbeitsgemeinschaft hinauszuwerfen. Dass er bereits mit diesen Gedanken umging, sollte ich bald zu spüren bekommen. Ich hätte das Warnzeichen in seinen Augen sehen und beachten müssen. Auf der nächsten Tagung der Arbeitsgruppe diskutierten wir Lenins objektive Widerspiegelungstheorie.





Ich mischte mich wieder einmal ein. In einem literarischen Werk könne man jeden Helden hervorbringen, aber eben nur einen künstlichen Helden. Wenn die Literatur jedoch nicht dazu beiträgt, im Schreiber und Leser den Wunsch nach mehr Wahrhaftigkeit zu wecken, dann taugt sie nicht. H. Blume missfiel meine Argumentationsweise längst. Unglücklicherweise brachte er obendrein ein völlig untaugliches Beispiel. Ein Kommunist leistet, gleich was er tut, solange er den Sieg des Sozialismus im Auge hat, schließlich nur Gutes. Noch nie hatte ich größeren Unsinn gehört. Ich weigerte mich das zu akzeptieren.


Er und andere widersprachen meiner Ansicht, dass es die erste Aufgabe des Schreibenden ist, das eigene Gewissen und das Gewissen der Leser zu schärfen. Sie, und vor allem H. Blume meinten, nicht das Gewissen sei die bestimmende Größe, sondern die jeweilig herangereifte Notwendigkeit zur Durchsetzung einer humanen Idee.


In der darauf folgenden Beratung, welche diesmal im Neubrandenburger Volkshaus stattfand, war Lilly Becher, Ehefrau des Dichters Johannes R. Becher, anwesend. Die kleine freundliche Dame hielt einen Vortrag über ihr jahrelanges Emigrantendasein in der Sowjetunion. Ihr Mann habe immer gesagt, er sei ein Überwinder. Ich dachte mir meinen Teil und verstand sie recht gut. All diese Repressalien, all diese Verhaftungen von Kommunisten über Jahre hinweg konnte kein noch so treuer Liniengänger Stalins und des Kommunismus unbeschadet verkraften. Johannes R. Becher erlebte und überlebte alle vom sowjetischen Geheimdienst ausgeführten Terroranschläge, weil es ihm gelang, sich fortwährend in beredtes und zugleich tiefstes Schweigen zu hüllen. Eine schwere Aufgabe für den sonst so Wortgewaltigen. Solche Zeiten übersteht kein Durchschnittsmensch. Das kann nur ein Überwinder im biblischen Sinne.


Wir saßen über zwei Stunden lang mit Lilly Becher beisammen und mir kamen viele Gedanken in den Sinn, darunter waren einige, die ich sogar vor mir selbst versteckte.


Nachdem Frau Becher davon gefahren war, erklärte H. Blume die Arbeitsgemeinschaft Junge Autoren für aufgelöst.


Er fuhr fort: “die ehemaligen Mitglieder sind vom Vorstand der Arbeitsgemeinschaft in Fortgeschrittene und Anfänger aufgeteilt worden.” Nachdem der jeweils letzte Name der Kandidaten verlesen war, fand ich mich ausgeschlossen.


Ja, da wunderst Du Dich sicherlich, aber wir haben beschlossen, Dich nicht wieder aufzunehmen. Wir haben weder die Lust noch die Zeit, uns ständig mit Dir auseinanderzusetzen.” Die Dreistigkeit, mit der sie mich behandelten, erschreckte mich, schließlich war ich durch die Tür hereingekommen. Sie kniffen nicht nur, sie brandmarkten mich als Unwürdigen. Das war etwas, das ich später von Seiten evangelischer Geistlichen erfahren sollte. Mit einem Mormonen wünschten sie nicht wieder zu sprechen. War das, was ich vertrat, zu primitiv oder war was ich sagte minderwertige Quasselei gewesen? War ich selbst es nicht wert? Die zukünftigen Literaten gaben mir an jenem Tag des Hinausschmisses die Gelegenheit, mich zu äußern. Noch nie war ich so verlegen, so überrascht gewesen, obwohl es sich doch seit Wochen abzuzeichnen begann. Meine Sichtweise sowie die daraus folgenden Fragen waren ihnen lästig. Ich hätte ihnen klipp und klar sagen müssen, dass sie sich Toleranz gegen einen einzigen Andersdenkenden nur deshalb nicht leisten konnten, weil ihre Position zu schwach war, weil meine Diskussion es ihnen noch schwerer machte, sich ihrer Selbsttäuschung hinzugeben...


Vergeblich rang ich nach passenden Worten und fand mich zehn Minuten später auf der Straße wieder .


Auf dem Heimweg sah ich die roten Plakate: Der Sieg des Kommunismus ist gewiss!


Zugleich glaubte ich das Gegenteil.





Da waren ähnliche Erkenntnisse und Ereignisse wie dieses kurze, sehr aufschlussreiche Gespräch mit dem Altkommunisten Ernst Kay, im Frühjahr 1959 gewesen. Ernst Kay gehörte dem Sicherheitspersonal des Panzerreparaturwerkes Neubrandenburg an und war wegen seiner Alt-KPD-Mitgliedschaft Teil der Betriebsleitung. Er verfügte dementsprechend über Insiderwissen. Zu seinen Aufgaben gehörte es, uns Fischer zu begleiten und bewachen, wenn wir im Sperrbereich fischen wollten. An jenem Morgen hatte ich mir das ND (Neues Deutschland”) mit auf den See hinausgenommen. Da stand in roten Lettern auf der Titelseite die Schlagzeile: “Nikita Sergejewitsch Chrustschow: FÜR EINE WELT OHNE WAFFEN”. Ich hielt Ernst Kay das riesige Blatt hin. Aus seinem langen und müden Faltengesicht warf er einen schrägen, kurzen Blick auf seine Parteipresse und sagte beeindruckend kühl, aber mit jener ungeheuren Selbstverständlichkeit, die gewisse Wahrheiten eben begleiten: “Hei lücht!” (Er lügt!) Keiner der Kremlchefs samt ihren Beratern, weder Lenin, noch Trotzki weder Stalin, noch Tuchatschewskij geschweige denn Malenkow, hätten jemals dermaßen “brutal”, wie eben Chrustschow auf militärische Rüstung gesetzt. Jedes Wort, das der fast sechzigjährige Ernst Kay mit seiner heiseren, doch nicht unsympathischen Stimme so gelassen aussprach, drang mir tief ins Bewusstsein. Dann schnitt er alles, was er geäußert hatte, auch meine weiteren Fragen mit der lapidaren Bemerkung weg, aus Frauen und den Militärs mache er sich nichts mehr. Prost! Er trank etwas, das wie Wasser aussah. Er betrachtete den Rest des Inhaltes traurig und steckte die kleine Flasche zurück in eine Tasche seines weiten Jacketts, wo er sie hergeholt hatte, wobei er mich mit einem weltmännisch klugen Blick auf die letzte Schlussfolgerung seines bewegten Arbeiterlebens hinwies: für ihn sei die pünktliche Einnahme seiner Seelenmedizin immer noch das Wichtigste.


Ich gab meine untauglichen Versuche auf, in verdeckter oder offener Form zu schreiben, was ich aus Schmerz und Zorn über die Leiden so vieler Millionen Menschen empfand. Ich suchte aber nach wie vor Gespräche und wurde mehr denn je davon überzeugt, dass die durchaus vorhandenen Ideale des Kommunismus nie Wirklichkeit werden könnten, wie viel Energie seine treibenden Kräfte auch aufwandten. Denn sie wirkten nahezu ausnahmslos in die falsche Richtung.





Ich empfand es als Paradox, dass so wenige Menschen zu bewegen waren, sich der Kirche Jesu Christi anzuschließen.





Trotzalledem kamen in den Jahren zwischen 1960 bis 1980 und innerhalb der Dresdener Mission jährlich etwa fünfzig Untersucher zur Taufe.


Mein Freund Gerwin Baasch (Leipzig) und sein Mitarbeiter Herbert Heidler galten als die erfolgreichsten D.- missionare, innerhalb unserer Mission, mit mehr als fünfzehn Bekehrten.





Professor Beier Red - ein Erzkommunist - zeichnete damals eine Karikatur, die unbeabsichtigt ins Schwarze traf. Selbst die schärfsten Kritiker der Sowjetpolitik hätten die wahren Absichten der Kreml-Machthaber nicht zutreffender darstellen können. Die Zeichnung zeigte einen auf dem Nordpol des Globus sicher sitzenden Rotarmisten. Er hält den in den Bauch der Mutter Erde gerammten Schaft der mit Hammer und Sichel bestückten rote Fahne. Ausschließlich er, der Kämpfer mit der Budjonnyjmütze hat auf diese Erde Besitzerrecht im Wortsinn, Uncle Sam dagegen nicht. Der hat Pech und kratzt sich sorgenvoll den Kopf. Seine Position auf dem Erdball wird ihm von dem kess lächelnden Sowjetjungen definitiv strittig gemacht. Frechheit siegt! Der Russe macht, dass der Ami abrutschen und verschwinden muss. Denn dieser Erdball, in den Proportionen Beier-Red’s dargestellt, bietet nur eine einzige Sitz- und Bleibemöglichkeit. Die Amis sind dazu verurteilt, die Erde zu verlassen.


Dazu passte die spätere Äußerung und Antwort Chrustschows wem er denn seine 20 Megatonnen Wasserstoffbombe zugedacht habe: “Amerika!”





Außer meiner täglichen Arbeit wandte ich mich den Aufgaben zu, die meine Kirche mir stellte. 1960 kam der sozialistische Frühling buchstäblich mit Macht. In Massen zogen die Parteigänger Ulbrichts aus, um Neu- und Altbauern durch maßlose Überredung und durch zahllose Tricks zu nötigen, sich als Mitglieder landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften einschreiben zu lassen. Schon vor Beginn dieser Aktion stand fest, dass sie ein Resultat von mehr als neunzig Prozent Erfolg zuwege bringen würden. Ulbricht wollte den Sozialismus auf dem Lande und er sollte ihn bekommen. Vor den Schlafzimmerfenstern der widerspenstigen Bauern wurden Lautsprecher aufgefahren, die unentwegt Friedensparolen röhrten. Dabei war den Neubauern 1945 schriftlich, in Form von Urkunden, das Bodenreformland vom Staat übereignet worden. Viele pochten auf diese verbrieften Rechte. Die stereotype Antwort der Staatsfunktionäre lautete, es gäbe neue Notwendigkeiten. Schade, dass ein so großes und gutes Anliegen, die Menschen zu bewegen, miteinander statt gegeneinander zu arbeiten, mit Brutalität erreicht werden sollte. Aber auch die kühlsten Rechner wussten, dass schließlich jede Lust am Muss zerbricht.


Aufsehen erregend schnellte die Zahl der so genannten Republikflüchtigen nach oben. An jedem Tag bis zum 13. August gingen tausende, zuletzt neuntausend, zehn-, zwölf-, vierzehntausend Menschen, - nicht seelenlose Roboter -, davon. Das tat der SED-Führung weh, auch aus wirtschaftlichen Erwägungen, und weil dies ihrem, von ihr selbst gezeichneten Bild als Partei des Volkes schadete.


Ulbricht log aus taktischen Gründen als er in der Vorwoche des Mauerbaus schwor: “Niemand will eine Mauer!”, denn sonst hätten sich wahrscheinlich hunderttausende auf den Weg gemacht.


Schnellstens mussten Sandsack, Betonblock und Stacheldraht her, um das gänzliche Entleeren der Republik durch nicht mehr kontrollierbaren Potentialabfluss zu verhindern.


Ich selbst überlegte und zauderte noch einmal. Auch ich sehnte mich wie so viele andere nach den Möglichkeiten, die der freie, goldene Westen zumindest unserer Phantasie bot. Wenn da nicht die Pflicht meiner Kirche gegenüber gewesen wäre, hätte ich meine Familie genommen und wäre ebenfalls weggegangen.


Am dreizehnten August verkündete der DDR-Rundfunk: Zur Flucht ist es zu spät!


Nicht nur mir war zumute, als hätte sich über mir eine massive Falltür für immer geschlossen und ich schrie nach innen: Jetzt bist du endgültig ihr Gefangener! Es dauerte lange Wochen, bis ich mein seelisches Gleichgewicht wiedererlangt hatte.


Irgendwann im Verlaufe des folgenden Herbstes sagte ich mir aber: Niemand hat dir deine Familie geraubt. Lebe für sie, für deine Frau, deine Kinder, deine Eltern. Sie sind das Beste, das du haben kannst. Pfeif' auf die anderen Sorgen.


So zogen wir uns, noch mehr als zuvor schon, auf unsere kleinen Kreise zurück.


Erika tröstete mich: “Wenigstens in Deinen Gedanken bist Du frei. Mach' mehr aus den Möglichkeiten, die Dir geblieben sind.”


Ausgerechnet in jenen beklemmenden Herbsttagen sollte ich einen Höhepunkt in meinem Fischerleben erleben. Es war eine Situation, die mich daran erinnerte, was Petrus auf Jesu Rat hin tat, noch einmal hinauszufahren auf den See Gennesaret. Er antwortete zunächst: “Meister wir haben die ganze Nacht gefischt und nichts gefangen.”


Fahrt noch einmal hinaus und werft die Netze aus.”


Wenn Du es sagst, dann wollen wir es tun ..." und sie fingen eine so große Menge Fische, dass ihre Netze zu reißen drohten ... sie füllten die beiden Boote bis zum Rand, so dass sie fast untergingen ...”


Mein großer Tag begann ebenfalls außerordentlich trist. Wir beabsichtigten, mit dem großen Garn Maränen zu fangen. Wir legten das Zugnetz auf halbem Weg zwischen Neubrandenburg und Buchort aus, vierhundert Meter vom Land entfernt. Maschinenwinden zogen das riesige Umfassungsnetz, binnen einer Stunde auf Ufernähe heran. Dann fuhren die beiden Kähne in die Mitte des Aufzuges. Wir erzielten jedoch, trotz aller Anstrengung, lediglich einen der gar nicht so seltenen Misserfolge: wir konnten nur vier Stück Kleine Maränen fangen. Inzwischen rückten die Uhrzeiger auf die zweite Nachmittagsstunde vor. Winterluft wehte uns an. Der Wetterhahn drehte auf Nordwest. Der Wind legte sich aber so plötzlich, wie er gekommen war. Dennoch, keiner der Fänger spürte Lust, noch einen weiteren Zug anzulegen. Die Enttäuschung stand uns ins Gesicht geschrieben. Einige dachten schon ans gemütliche Zuhause. Betrübt fuhren wir heim. Da sahen wir gerade noch, schon hinter uns, das silberne Blinken der aus dem Umgebungswasser herausschießenden Fischchen. Drei Minuten später hätte es keiner mehr wahrnehmen können. Wir wären dann im Flachwasserbereich gewesen und hätten bald darauf die Fahrrinne zum Oberbach erreicht.


Es wurden immer mehr. Übermut trieb diese auf Hochzeit gestimmten Winterlaicher.


Zwei Stunden später kamen die beiden Netzwände, wie ein silbern genoppter Teppich heran. Allmählich, während des Zuladens des fischgespickten Garns brachte die Fischmenge die beiden Kähne fast zum Sinken. Wie Hirschgeweihe stießen die Vordersteven der Boote in die Höhe, während die Heckteile nahezu mit der Wasseroberfläche abschnitten. Massenweise suchten die wertvollen Speisefische im Wadensack Platz und Durchkommen zu finden. Da schwammen sie noch, waren aber wie die anderen gefangen. Anders wären wir der Mengen nicht Herr geworden. Nahezu neun Tonnen konnten wir auswiegen und verkaufen. Ich war wie Petrus und Andreas dankbar sowohl für das verdiente Geld als auch dafür, dieses einmalige Schauspiel erlebt zu haben.


In den folgenden Jahren setzte sich der positive Trend in der Genossenschaft fort. Ich erwarb berufliche Abschlüsse, ließ mich jedoch nicht auf politische Zugeständnisse ein.





Mitunter, vor allem in den Tagen der Leipziger Messe, wurden wir Mormonen in die Messestadt zu Sonderversammlungen eingeladen. Durch dieses letzte - aus wirtschaftlichen Erwägungen - weltoffene Tor kamen gelegentlich Amerikaner zu uns, Generalautoritäten. Die “Sicherheitsorgane” der DDR vermuteten anfänglich natürlich das Schlimmste.


Ganz sicher waren sie nie, ob unsere teilweise auch vertraulichen Gespräche mit den US - Amerikanern sich ausschließlich um die religiöse Achse drehten. Doch tatsächlich gab es nichts, was sie hätte beunruhigen müssen, es sei denn, dass sie die Kombination von Logik und Glauben für Furcht erregend hielten. Es gab aus unseren Reihen stets zwei, drei Männer, die den “Sicherheitsorganen” von den Reden und Äußerungen in den “Priesterschaftsklassen” berichteten. Unter diesen Berichterstattern war einer meiner besten Freunde. Durch ihn flossen einige Informationen zu mir zurück. Wir sind heute noch Freunde. Es gab kein Misstrauen zwischen uns.


In der Tat, wir waren nur damit befasst, unseren Gemeinden, unseren Freunden und uns selbst zu dienen. So war es für uns harmlos, wenn Wortprotokolle abgeliefert wurden. Sie zeigten nur, dass Mormonen Mormonen waren. Das war immer der Fall. Ob Präsident Marion G. Romney kam, dessen Bruder bekannter Gouverneur eines US- Bundesstaates war oder andere. Sie gaben nie eine andere Absicht, als die Übermittlung ihrer religiösen Überzeugungen zu erkennen. Da saß einmal ein junges amerikanisches Ehepaar oben auf dem Podium. Achthundert Kehlen stimmten an : “Ob du ja sprichst oder nein, stimme stets dein Herz mit ein und was dann dein Mund verspricht, halte treu und täusche nicht.” Es wurde hingebungsvoll nach dem vierstimmigen Satz von Beesley gesungen, und wie mir vorkam, fast wie von einem einstudierten Chor. Ich schaute zum Dirigenten und sah dabei, wie stark es die junge Frau, die da oben saß, innerlich bewegte, weil sie anscheinend seelentief spürte wie ernst es uns mit dieser gesungenen Aufforderung war uns selbst treu zu bleiben. Wir DDR-Mormonen haben unseren Staat nie geliebt, aber wir haben ihn auch nicht betrogen. Für ehrliches Geld, auch wenn es nur wenig Wert hatte, haben wir ehrliche Arbeit geleistet. Das war uns wichtig.

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